Als ich zum ersten Mal die Klotür unseres Stadt-Domizils öffnete, bekam ich fast einen Herzinfarkt. Ein lautes Flattern empfing mich und dann hörte ich vor dem gekippten WC-Fenster ein hallendes „Gurr, gurrrr“. Voller Panik holte ich meine Freundin zur Hilfe. „Ma, soooo herzig, die Tauben“, jubilierte sie und war zutiefst empört, als ich vorschlug, das Viehzeug ins Exil zu treiben, zwecks Lärmreduktion und der frischeren Luft wegen.
Aus Demut und weil man schließlich nicht als Unmensch abgestempelt werden möchte, freundete ich mich also mit Herrn und Frau Taube an. Ein freundlich-respektvolles „Gurr, gurrrr“ empfängt mich
seither, wenn ich unserem wenig stillen Örtchen einen Besuch abstatte. Als sich dann unlängst noch ein hellgrauer, gelbschnabeliger Taubennachwuchs einstellte, war das Familienglück komplett.
*
Am Abend klingt das „Gurr, gurrrr“ unserer Tauben wesentlich ungehaltener, vor allem dann, wenn man es wagt, das Licht aufzudrehen. „Gurr, gurrrr“, schreit Frau Taube dann und schreitet aufgeregt
auf dem Mauervorsprung hin und her, auf dem sie zuhause ist. In der Nacht habe ich noch keinen Grund gehabt, ihre Geduld auf die Probe zu stellen. Bis heute.
Um zwei Uhr nachts wache ich auf, weil ich aufs WC muss. Verdammt, ich hätte am Abend keinen Orangensaft mehr trinken sollen. Ich wälze mich ein paarmal hin und her, versuche, wieder
einzuschlafen, aber es hilft nichts. Ich schlupfe in meine Patschen und mache mich schlechten Gewissens auf den Weg zum Klo. Mama Taube hat sowas gar nicht gerne.
Millimeterweise drücke ich die Klinke herunter, auf gar keinen Fall möchte ich Herrn und Frau Taube und ihr Kind aus ihren Träumen reißen. Wer den ganzen Tag lang fleißig die Stadt vollgekotet
hat, hat eine ungestörte Nachtruhe verdient.
Auf dem Spülkasten liegt ein kleines, schwaches LED-Licht, das sich mit lautlosem Fingerdruck einschalten lässt, wir tun alles, um unsere gefiederten Mitbewohner nicht ungnädig zu stimmen. Ich
ertaste das Licht mit meiner Linken und ziehe mit meiner Rechten vorsichtig die Tür zu. Aber eben nicht vorsichtig genug.
„Gurr, gurrrrrrrr“, erschallt es wütend aus dem Lüftungsschacht, und „fiep, fiep“, schimpft das Taubenkind. Zorniges Flügelrascheln erklingt, während ich niedergeschlagen die Spülung betätige.
Tief beschämt kehre ich ins Bett zurück und werde von meiner Freundin mit Vorwürfen empfangen. Die armen Tauberln, und ich soll mich morgen früh gleich bei ihnen entschuldigen. Und überhaupt, die
kleine Taube hätte vor Schreck von ihrem Sims fallen können. Leise weine ich mich in den Schlaf.
Trotzdem. Trotzdem hoffe ich, dass es die Tauben gut haben bei uns. Dass sie eine schöne Zeit verleben auf dem Mauervorsprung und sich vom Taubenmist im Schacht nicht gestört fühlen. „Dort
unten“, wird das Taubenjunge einst seinen Freunden erzählen und mit einer Flügelspitze auf den Lüftungsschacht zeigen, „dort unten habe ich zum ersten Mal Kacka gemacht!“ Aber bis dahin dauert es
noch eine Weile. Zuerst muss das Taubenkind noch ein bisschen auf dem Mauervorsprung hocken und „fiep, fiep“ machen.
Aber in einigen Wochen wird sie flügge sein, die kleine Taube. Sie wird die Flügel entfalten und aus dem engen, finsteren Lüftungsschacht zur Sonne emporsteigen. Dann wird sie majestätisch über
die Dächer gleiten und, begleitet von den stolzen Eltern, zum ersten Mal in ihrem Leben feierlich die ganze Stadt zuscheißen.
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