Der Zug der Sehnsucht

Wien Hauptbahnhof, 19 Uhr. Hannes ging ein letztes Mal von Abteil zu Abteil und vergewisserte sich, dass alles vorbereitet war. Dann begrüßte er die Gäste. Den Anfang machte ein älteres Ehepaar, er im grünen Sakko, sie mit grauer Strickjacke. Ein Blick auf die Fahrkarten, die Herrschaften fuhren nach Florenz. Da mussten sie ziemlich früh aufstehen. Die beiden sahen aber nicht so aus, als ob ihnen das etwas ausmachte. Auf das Ehepaar folgte ein junger Mann im Anzug, der hatte wohl geschäftlich zu tun in Italien. Vielleicht fuhr er aber auch seine Julia besuchen. Eine Lehrerin fuhr mit einer Handvoll aufgeregter Schüler nach Rom, eine Frau mit einem bunten Seidenschal sah irgendwie nach einer Künstlerin aus. Als der Schaffner bereits die Pfeife an die Lippen setzte, stürmte jemand die Rolltreppe herauf, Hannes erkannte den Fahrgast am silbernen Trolley, der hinter dem Läufer wilde Kurven zog. Thomas war Klimaexperte bei einer Umweltschutzorganisation, der fuhr öfter mit dem Zug. Am liebsten dorthin, wo das Klima schön warm war. Außerdem hatte er in Italien eine Tante oder sowas. Er wuchtete seinen Koffer in den Zug, dann wischte er sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn und grinste. „Grüß dich Hannes“, sagte er, und, als hinter ihm zischend die Tür zufiel: „Alter, das war knapp. Und einen Hunger hab ich. Gibt’s bald Abendessen?“ Hannes nickte und stellte sich noch einen Augenblick ans Fenster. Er sah winkende Menschen und viele Lichter, die immer schneller an ihm vorbeizogen, dann ging er ins Dienstabteil.


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Ihr Lächeln hatte ihm gleich gefallen, als sie ihm Platz machte und er sich zögernd auf der Holzbank niederließ. Er brachte ein ausgesprochen wienerisches „Grazie“ über die Lippen und fragte sie dann, ob sie auch Deutsch oder Englisch spreche. „Am liebsten Italienisch“, hatte sie gelacht und ihn auf Englisch gefragt, ob er auch gestrandet war. Und das war er tatsächlich. Als sein Regionalzug endlich in den Bahnhof eingefahren war, hatte er schon seinen Nachtzug gesehen. Er hatte ein Dutzend Italiener über den Haufen gerannt, aber es kam, wie es kommen musste. Das Geräusch der sich lösenden Bremsen und die Tür, die vor seiner Nase zuschlug, waren der Auftakt für eine Nacht, die er niemals vergessen würde.


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Wiener Neustadt, 19:56. Noch zehn Stunden. Ein einsamer Reisender stand vor Hannes, als sich die Tür öffnete. Er hatte dasselbe Abteil gebucht wie der Klimaexperte, aber es war ein Wochentag und der Zug nicht voll ausgelastet. Hannes zeigte dem Fahrgast ein Einzelabteil, der Mann bedankte sich. Wenig später, als Hannes ihn nach seinen Frühstückswünschen (Kaffee und zwei Buttersemmerl) und der gewünschten Weckzeit (so spät wie möglich) befragt hatte, überquerte der Zug im letzten Abendlicht den Semmering.


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Er hatte erfreut festgestellt, dass er mitten in Italien auf eine Schicksalsgenossin gestoßen war. Vielleicht würde die Nacht doch nicht so langweilig werden wie befürchtet, denn für die paar Stunden ein Hotel zu suchen, war ihm zu mühsam. Sie war im selben Zug gesessen wie Hannes und hatte den letzten Anschluss in den Süden versäumt, wo sie wohnte. Der Name ihrer Stadt hatte ihm nichts gesagt, aber dass sie aus Süditalien kam, hatte er sich schon gedacht. Das Lachen, die lebhaften Gesten, der Umstand, dass sie ihn, den Unbekannten, so herzlich empfangen hatte. Er fragte sie, ob sie schon einen Plan hätte für die nächsten Stunden. Ansonsten könnte er sie ja auf einen Kaffee einladen.


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Bruck an der Mur, 21:25. Hier gab es immer einige Zusteiger aus Graz. Diesmal waren es Interrail-Reisende aus Deutschland, sie unterhielten sich über ihre Erlebnisse in Skandinavien. Von Berlin nach Trondheim, und dann nach Graz und nach Rom, dachte er, nicht schlecht. Seine Uniform spiegelte sich in den Fenstern des Waggons, draußen war es mittlerweile stockdunkel.


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Sie hatte viel gelacht und statt dem Kaffee einen guten Wein bestellt. In der Toskana hatte sie Freunde besucht. Über Wien wusste sie nicht besonders viel, aber sie hörte ihm aufmerksam zu. Und dann erzählte sie ihm vom Sommer in Süditalien, von Sonne, Meer und Strand. Die Toskana gefalle ihr aber auch sehr gut, sie träume davon, hier ein Ferienhaus zu besitzen. Wovon er denn immer so träume?


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Friesach, 23 Uhr. Hannes stieg aus und brachte dem Lokführer eine Tasse Kaffee. „Na, Hannes“, fragte dieser augenzwinkernd und ein wenig mitleidig, „heute Nacht?“ „Heute Nacht“, antwortete er und lauschte kurz den Kirchenglocken, bevor er wieder einstieg. Er würde Friesach gerne einmal bei Tageslicht sehen.


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Ohne, dass sie sagen hätten können, wie das passiert war, lagen sie sich plötzlich in den Armen und küssten sich leidenschaftlich. Gerade hatten sie noch geredet und geredet, zwei ganze Leben in einer halben Nacht. Und nun saßen sie da und schwiegen und waren mit sich, ihrem Leben und mit den versäumten Zügen im Reinen. Er war noch nie so glücklich gewesen. Im Morgengrauen hatte sie sich aus seiner Umarmung gelöst und ihm noch rasch ihre Telefonnummer auf einen Zettel gekritzelt. Sie musste schnell nachhause, er hatte noch ein paar Stunden bis zum ersten Zug nach Wien. Er verließ das Café, legte sich in der Halle auf eine Bank und schlief sofort ein.


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Florenz, 6:20, es dämmerte schon. Hannes verabschiedete sich von dem Ehepaar, das putzmunter aus der Wäsche blickte und sich auf ein italienisches Gabelfrühstück freute. Er wartete noch ein paar Augenblicke, dann sprang er mit einem Satz aus dem Zug und rannte den Bahnsteig entlang. Da saß jemand auf einer Bank. Isabella? Schnell durch die Unterführung, in die Bahnhofshalle, ins Café. Isabella? Isabella war verschwunden, damals, gemeinsam mit der Telefonnummer in seinem Rucksack, der ihm in jener Nacht gestohlen worden war.


Das Café war bereits gut gefüllt, es roch nach Espresso und frischem Gebäck. Isabella war nicht hier, sie war wohl wieder irgendwo anders. Langsam ging er zurück auf Bahnsteig 3 und stieg wieder in den Zug der Sehnsucht.

 

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