Was ich beim Schreiben meiner Masterarbeit eigentlich gelernt habe
Ich bin ein bildungsaffiner Mensch, und wenn ich auf Informationen stoße, die mich interessieren, bin ich schwer vom Thema abzubringen. Heute zum Beispiel muss ich dringend an meiner Masterarbeit
weiterschreiben und habe nicht die geringste Lust dazu. Was wäre also naheliegender, als mich auf wissenschaftlich fundierte Art und Weise mit dieser Unlust auseinanderzusetzen?
Prokrastination ist eine pathologische Störung, erfahre ich auf Wikipedia. Sie ist durch ein unnötiges Vertagen des Beginns oder durch Unterbrechen von Aufgaben gekennzeichnet, sodass ein
Fertigstellen nicht oder nur unter Druck zustande kommt.
Spannend, denke ich mir, und vertiefe mich weiter in die Fachlektüre. Alle einschlägigen Prokrastinations-Ratgeber empfehlen mit Nachdruck, nicht auf etwaige Anfälle von Inspiration zu warten,
sondern ganz einfach sofort mit der Arbeit zu beginnen. Ich habe auch tatsächlich bereits mit der Arbeit begonnen, denn ich habe das Word-Dokument, das den ersten Satz meiner Masterarbeit
enthält, aufgemacht, schon vor vier Stunden. Seitdem sitze ich hier und lese Artikel über Prokrastination.
Als ich schließlich am späteren Abend alles über Prokrastination weiß, was man über Prokrastination wissen muss, lässt meine Arbeitswut nach und ich widme mich anderen wesentlichen Fragen des
menschlichen Zusammenlebens.
Wie viel kostet ein Flugticket nach Siorapaluk? Dort findet mich die Uni bestimmt nicht. Ein Ticket nach Siorapaluk, erfahre ich, kostet rund 1.500 Euro. Hin und retour ist es doppelt so viel,
aber ich will ohnehin dort bleiben. Wurscht, ich kann mir das Ticket, weil ich neben dem Stress mit meiner Masterarbeit keine Zeit zum Geldverdienen finde, leider nicht leisten.
Frage zwei: Gibt es andere Möglichkeiten, nach Siorapaluk zu kommen? Die "Kursk" war ein russisches Atom-U-Boot. Ein Übungstorpedo, der unbedingt ins Eismeer geschossen werden musste, beschädigte
eine Wasserstoffperoxidleitung, und dann reichte die Zeit nur mehr für einen kurzen Abschiedsbrief, der später gefunden wurde. Wow! Diese Menschen haben ein aufregendes Leben gehabt und sind
völlig umsonst gestorben. Und ich sitze nur da und schreibe meine Masterarbeit.
Frage drei: Wenn man kein Atom-U-Boot zur Verfügung hat … Wie kann man sich dann trotzdem unnötig in Gefahr bringen? Die Antwort ist nur wenige Mausklicks entfernt: Durchzündungseffekte bei
Holzrolltreppen. Du fährst arglos mit der U-Bahn zur Uni, irgendein Bummelstudent schmeißt seine Tschick auf die Rolltreppe und – bumm – steht die ganze U-Bahn-Station in Flammen. Ich fahr nur
mehr mit dem Fahrrad auf die Uni.
Genau genommen muss ich, wenn ich die Masterarbeit nicht fertigkriege, überhaupt nicht mehr auf die Uni fahren. Das sehe ich ein und bin grundsätzlich gewillt, dem Word-Dokument noch eine Chance
zu geben, doch leider gibt es in meinem Zimmer zu wenig Sauerstoff. Ich öffne das Fenster, als mein Magen zu knurren beginnt. Ich habe zu wenig Futter im Bauch – und im Haus, wie sich
herausstellt. Zum Einkaufen habe ich allerdings keine Zeit, weil ich mir das neueste Video im Hydraulic Press Channel anschauen muss: Einen Typen, der mit einer hydraulischen Presse alles kaputt
macht. In einem der Videos versucht er, Papier siebenmal zu falten. Viel spannender als meine Masterarbeit.
Als ich es zwei Stunden später mit übermenschlicher Anstrengung schaffe, mich wieder einmal eine halbe Minute lang auf mein Word-Dokument zu konzentrieren, habe ich plötzlich das Gefühl, von
einer Ente beobachtet zu werden. Ich googel mein Problem und finde heraus, dass ich nicht alleine bin. Niemand, der an Anatidaephobie leidet, muss sich dafür schämen. Ich werfe meine Laptopmaus
nach dem dreisten Eindringling und beschließe, die nächsten Schritte der Ente abzuwarten.
Eine Ente im Zimmer ist der richtige Zeitpunkt, um mehr über Schrödingers Katze herauszufinden. Das Ice Chewers Bulletin Board zu durchforsten. Die Llama Spit Compilation auf youtube anzuschauen.
Und schließlich bin ich bei den Office Freak-out Compilations angelangt. Zu sehen sind Menschen, die schuldlos ständig unter Druck stehen und irgendwann plötzlich auszucken. Ich kann mich gut in
sie hineinversetzen, denn mir wird schön langsam ebenfalls alles zu viel: Das Atom-U-Boot, die sabbernden Lamas, der unstillbare Hunger nach Informationen und Nahrungsmitteln, und dann ist da
noch diese verdammte Ente, die mich ständig verfolgt.
Mit einem Urschrei werfe ich meinen Computer an die Wand und falle, nachdem ich meiner gequälten Seele ein bisschen Luft verschafft habe, erschöpft ins Bett. Ich habe viel gelernt heute. Und
morgen ist auch noch ein Tag.
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