Wer wie ich seit Jahr und Tag immer im selben grünen Kapuzenpullover und in einem selbstgestrickten Lendenschurz herumrennt, braucht sich nicht wundern, wenn er eines Tages nicht mehr zum Zielpublikum der Modeindustrie gehört. Im Grunde ist das ja auch völlig unerheblich: Ein grüner Pullover und ein Lendenschurz aus Wolle halten warm und sind auf Hochzeiten und bei Bewerbungsgesprächen gern gesehen. Problematisch wird es dann, wenn der Kapuzenpullover fünf Löcher hat, von denen jedes so groß ist wie die Kapuze. Ich nähe die Kapuze jeden Tag auf ein anderes Loch, aber es hilft nichts: Irgendwo zieht es immer rein, und draußen ist Februar. Ich brauche was Neues zum Anziehen.
Ich begebe mich also nach Wien auf die Mariahilfer Straße und werfe mich todesmutig ins Getümmel. Ganze Heerscharen, nein, Frauscharen von einkaufswütigen Damen wogen in Flutwellen die
Mariahilfer Straße hinunter. Mein Auge fällt auf einen zerlumpten Mann, der seinen Arm um eine durchgestylte Frau gelegt hat. Beide sehen glücklich aus. Ich bin nicht glücklich, denn mir ist
kalt.
Ängstlich schleiche ich mich zum Eingang eines großen Modetempels. Dutzende Frauen, die bestens eingekleidet sind und es daher nicht nötig hätten, strömen an mir vorüber und scheinen mich nicht
zu registrieren, als ich mutig einen Fuß vor den anderen setze. Doch da! Mitten in dem Gewusel sehe ich plötzlich einen Mann. Es handelt sich um einen kleinen Japaner mit einem Gürtel, in dem ein
Samuraischwert steckt. Er trägt das Schwert, das größer ist als er selbst, am Rücken. Das Schwert und der Gürtel stehen ihm ausgezeichnet, darüber hinaus verfügt der Mann über keine weiteren
Kleidungsstücke. Seine Blöße verdeckt er mit einem Reiskorn. Er blickt gehetzt nach allen Seiten, während er sich zitternd dem Eingang nähert.
Mitten in den Eingang hat jemand ein großes Verkehrszeichen gestellt. Es ist rund, hat einen roten Rand und zeigt einen nackten Mann, der mit einem dicken roten Balken durchgestrichen ist.
Darunter steht: „Wir müssen leider draußen bleiben.“ Der Japaner und ich sehen uns ratlos an, doch dann entdecke ich einen Klebezettel, den jemand an das Schild geheftet hat. Am untersten Rand
des Zettels findet sich, mit Bleistift hingekrakelt, eine Notiz. Mühsam entziffere ich die erlösenden Worte: „Restbestände Herrenkollektion 17. Stockwerk.“
Puh! Ich bin erleichtert. Das hätte ich nicht zu träumen gewagt! In meiner Erinnerung sehe ich Schilder mit Aufschriften wie „Herren im dritten Obergeschoß“, „Herren im untersten Keller“ oder
„Herrenmode im hintersten Winkel“, aber das sind schöne Erinnerungen an alte Zeiten, in denen noch nicht alle Männer einen Kapuzenpullover gekauft hatten. Jetzt, 15 Jahre später, besitzen alle
Männer einen Pullover, und damit ist der Markt gesättigt.
Vorsichtig gehen wir an dem Schild vorbei, der Japaner links, ich rechts. Wir betreten das Geschäft, und dann kriegen wir den Mund nicht mehr zu: Abertausende Textilien warten da auf ihre
Käuferinnen, hunderte bestens gekleidete Frauen nehmen sie von Kleiderbügeln und hängen sie wieder zurück. Da gibt es quietschgelbe Regenmäntel, schulterfreie Pullover mit Blümchen drauf, Leggins
mit Leopardenmuster, alles, was das Herz begehrt! Neuwertig, topmodern, einfach unbeschreiblich! Jedes einzelne dieser Stücke wäre gut genug für mich, aber die hasserfüllten Blicke, die uns seit
dem Eingang begleiten, machen mir klar: Das ist nicht unser Revier.
Als ich eines dieser herrlichen Kleidungsstücke, eine hautenge, annähernd knöchellange Jeans mit großen goldenen Knöpfen, ehrfürchtig berühre, zeigt mir eine Kundin den Mittelfinger. Eine
Verkäuferin kommt meinem Gesicht mit ihren langen, messerscharfen Fingernägeln gefährlich nahe, dann zeigt sie mit selbigen auf eine Stiege im hinteren Bereich des Geschäftes, neben den
Toiletten. 17. Stock, schießt es mir durch den Kopf.
Es gibt auch einen Lift, aber der ist, den Gesichtern nach zu schließen, nicht für uns, wir sind schließlich keine Stammkundinnen. Wir verlieren keine Zeit. Mein Gefährte rückt sein Schwert und
sein Reiskorn zurecht und pirscht sich an die Stiege heran, während ich ihm Rückendeckung gebe. Er huscht nach oben zum ersten Stiegenabsatz, kauert sich auf den Boden, späht um die Ecke und gibt
mir ein Zeichen, dass die Luft rein ist.
Wenige Minuten später erreichen wir keuchend das 16. Stockwerk. Es scheint sich um einen Lagerraum zu handeln, ein paar Verkäuferinnen blicken uns angewidert an, während sie Pelzmäntel und
hüfthohe Stiefel mit gigantischen Absätzen aus ihren Kisten holen. Eine Stiege in den 17. Stock gibt es nicht. Wir sehen uns schüchtern um, als eine der Angestellten mit dem Kopf in eine Ecke
deutet. Wir laufen hin, und siehe da: Eine Strickleiter führt zu einer kleinen Falltür, die in die Decke eingelassen ist. Ich klettere hinauf und versuche, die Falltür in die Höhe zu wuchten. Die
Scharniere scheinen eingerostet zu sein. Mit einem lauten Scheppern schlägt die Falltür oben auf, eine dichte Staubwolke hüllt mich ein. Wir klettern durch das Loch, der Japaner und ich, und als
sich die Staubwolke verzogen hat, stehen wir vor der letzten Herrenkollektion der Stadt.
Auf einem Kleiderwagen hängt ein einziger rostiger Kleiderbügel, darauf ein ehemals weißes, inzwischen graues T-Shirt in Größe XXXL, das nur ein einziges, handtellergroßes Loch hat, vorne am
Bauch. Ich kann mein Glück kaum fassen, doch als ich das schöne Textil vorsichtig vom Kleiderbügel nehme, höre ich hinter mir das Geräusch, das entsteht, wenn ein zu allem entschlossener,
verzweifelter Samurai, der nichts zu verlieren hat, sein Schwert aus dem Gürtel zieht.
Ich halte das T-Shirt jetzt in der Hand, mein Herz schlägt schneller, als ich den weichen, wunderbaren Stoff fühle. Dieses wertvolle Stück gebe ich nicht mehr her. Vor mir steht der Samurai in
Angriffsstellung, das Schwert in beiden Händen. Mit einem Sprung rette ich mich auf die andere Seite des Kleiderwagens und bin in Sicherheit. Der Samurai brüllt „Harakiritoau!“, das ist ein
japanischer Todesschrei. Dann stößt er sich die Klinge ins Herz.
Ich bin der Sieger und kann es kaum erwarten, mein weißgraues Lochleiberl zum ersten Mal anzuziehen! Als ich mich frohen Mutes zur Falltür begebe, höre ich von unten ein lautes Schnaufen, und
eine Sekunde später springt ein muskelbepackter Kerl mit einem roten Gesicht, der bis auf eine altmodische Unterhose völlig nackt ist, aus der Öffnung. Er mustert den Raum mit einem schnellen
Blick, entdeckt das T-Shirt in meinen Händen und wirft sich mit ausgestreckten Armen auf mich. Ich kämpfe verzweifelt mit einer Hand, während ich mit der anderen meinen Lendenschurz festhalte.
„Meins!“, brüllt er und versucht, mir das T-Shirt aus der Hand zu reißen. Mit einem lauten Rrratsch zerreißt es in zwei Hälften, was mir nichts ausmacht: Zerrissen ist jetzt der letzte
Schrei. Dann schnappt sich mein Gegner den Kleiderbügel, der einsam auf dem Kleiderwagen hängt, hakt ihn in meinen Bauchnabel ein und …
Ich bin guter Dinge. Im Bett ist es warm, die Pfleger sagen, ich darf in zwei Wochen nachhause. Und den Krankenhauskittel darf ich behalten!!
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