Die Annenmühle hatte ihren Namen von einer Flussjungfrau, die hier zu Tode gekommen war. Anne, so wollte es die Legende, hatte eines Tages das lustige Plätschern des Wasserrades vernommen. Sie war neugierig geworden, nähergeschwommen, und unversehens von dem mächtigen Rad erfasst worden. Anne blieb keine Zeit, um sich von dem malmenden Holz zu lösen. Ihr blutender Körper wurde von dem rastlosen Rad aus dem Fluss herausgerissen und durch die Luft gewirbelt. Er schlug hart im Wasser auf, wurde unter das Rad gezogen und abermals aus dem Wasser gerissen. Das teuflische Spiel wiederholte sich immer und immer wieder, das hölzerne Ungetüm kannte keine Gnade. Annes Schwestern, die ihre entsetzten Schreie gehört hatten, eilten zur Mühle, ihre schlanken Leiber blitzten im Sonnenlicht, als sie durch das Wasser schnellten. Doch als sie beim Wasserrad ankamen, war Anne schon tot. Ihr türkisblauer, durchscheinender Körper war von blutenden Wunden übersät, und immer noch im rasenden Wasserrad gefangen.
Als das Gerinne am Abend geschlossen wurde und das Rad zum Stillstand kam, befreiten die sechs Schwestern Annes Körper, küssten ihre Wunden, und stießen ihren zarten Leib in den Wasserfall.
An diese Geschichte dachte ich, als ich an jenem friedlichen Juniabend vor dem unbewegten Wasserrad stand und das Wasser des Annenbaches rauschen hörte. Und an die Worte meiner verstorbenen
Mutter: „Wenn du an der Annenmühle stehst und dem Rauschen zuhörst, kannst du sie singen hören.“
„Aber Mutter“, hatte ich entgegnet. „Anne ist tot.“
„Es sind ihre Schwestern, die singen“, hatte meine Mutter geantwortet. „Am Abend singen sie für die tote Anne.“
Ich hatte den Kopf geschüttelt. „Das ist schon viele Jahre her.“
Meine Mutter hatte mich vorwurfsvoll angesehen. „Flussjungfrauen sterben nicht, und sie werden auch nicht älter. Das Flusswasser ist ihr Jungbrunnen.“
Ich schloss die Augen. Da war es mir, als vernahm ich im Rauschen des Annenbachs einen leisen Gesang. Er war klagend, aber doch auch hell und hoffnungsfroh. Er war wunderschön!
Ich trat an das Wasserrad heran, und es kam mir so vor, als hätte ich für einen Augenblick die Flosse eines großen Fisches vorbeihuschen sehen. Ich beugte mich vor, versuchte, den lieblichen
Gesang wieder einzufangen. Da verlor ich das Gleichgewicht, stürzte nach vorne, und schlug mit dem Kopf gegen das Wasserrad. Noch bevor ich ins Wasser eintauchte schwanden mir die Sinne.
Dann hörte ich ein gedämpftes Rauschen, das immer lauter wurde. Mein Gott, stürzte ich gerade den Wasserfall hinunter? Ganz plötzlich wurde das Rauschen noch lauter, mein Kopf befand sich über
Wasser. Im selben Moment wurde ich unsanft abgesetzt. Ich riss die Augen auf und blickte in das zornige Gesicht einer Flussjungfrau.
In diesem Blick, der mich aus schwarzen Augen traf wie aus zwei Kanonenrohren, lag eine solche Glut, dass ich meinte, das Flusswasser kochen zu sehen. Aber es war nur die Gischt, die an meinem
Felsen emporgeschleudert wurde. Neben mir stürzte das aufgewühlte Wasser in die Schlucht hinab.
Die Haut des schönen Mädchens war blass und durchscheinend, der liebliche Körper mündete unterhalb der Brust in einen blaugrünen, herrlich schillernden Fischschwanz. Die Wangen waren von einem
kräftigen Rosenrot. Ihr Kirschmund war etwas geöffnet, das pechschwarze Haar umfloss ihre zarten Schultern. Die Flussjungfrau bebte vor Zorn.
Aber sie sagte nichts. Sie blickte mich an, und in ihrem Blick lag eine grimmige Entschlossenheit. „Schwimm nicht weg“, wollte ich sie anflehen, aber ich vermochte kein Wort hervorzubringen. Sie
schwamm nicht weg. Als sie merkte, dass ich wieder zu Atem gekommen war, ließ sie sich vom Wasser an mich herantreiben. Als ich meine Hand nach ihr ausstreckte, tat sie einen jähen Schlag mit der
Flosse, griff blitzschnell nach meiner Hand und riss mich zurück ins Wasser.
*
Das war vor vielen Jahren gewesen. Ich hatte verzweifelt um mich geschlagen, Wasser war mir in Mund und Nase gedrungen. Schon hatte sie mich unter Wasser gegen einen Stein gedrückt, zwischen ihre
kohlrabenschwarzen Augen und die meinen passte keine Handbreit. Dann hatte ich ihre süße, glockenhelle Stimme gehört. Sie dürfe mich nicht fortlassen. Wer eine Flussjungfrau geschaut, der sei für
ewige Zeiten verloren. Ich hatte um mein Leben gebettelt, indem ich große Luftblasen ausstieß, die vom Strom fortgerissen wurden, und sie hatte mich verstanden. Kurz, bevor mir der Atem knapp
wurde, war ihr Blick traurig geworden. Dann hatte sie genickt.
Klara war meine Frau geworden, denn wenn ein Mensch eine Flussjungfrau geschaut, so darf sie ihn nicht fortlassen. Sie war an Land gestiegen und zum Menschen geworden. War sie am Anfang noch
etwas unsicher auf ihren neuen Beinen gestanden, so lernte sie doch in kurzer Zeit, von ihren Menschenbeinen Gebrauch zu machen. Wären ihr Blick nicht so feurig, ihre Haut nicht so
durchscheinend, ihre Wangen nicht so rosenrot und ihr Haar nicht so pechschwarz gewesen, niemand hätte hinter ihrer Schönheit ein Geheimnis vermutet. So aber zog sie die Menschen in ihren Bann,
alle, die ihr begegneten, mussten sie immerfort ansehen.
Sie hatte sich nie beschwert, in all den Jahren nicht. Nicht über die Menschen mit ihrer Zudringlichkeit, nicht über das trostlose Leben, das viele dieser Menschen führten. Auch über ihr eigenes
Menschenleben hatte sie sich nicht beschwert: Das Älterwerden vermochte sie nicht zu betrüben. Nur manchmal, wenn sie des Nachts an den Fluss ging, kehrte sie im Morgengrauen traurig zurück. Ihre
Schwestern sangen nun auch für sie Klagelieder, und sie verbargen sich vor ihr.
Wenn mich dann die Reue übermannte und ich zu weinen begann, sang sie für mich. Ich liebte Klara aus ganzem Herzen, und ich fühlte, dass auch sie mich liebte. Obwohl ich ein Mensch war, liebte
sie mich.
Klara fand Gefallen an den Menschen, sie sprach mit ihnen, lachte mit ihnen und hörte ihnen zu, wenn sie von ihren Sorgen erzählten. Wahrscheinlich hatte sie Mitleid mit ihnen.
Ich begleitete sie nie zum Fluss, denn ich wollte sie nicht traurig sehen. Doch eines Tages, als ich alleine vor der Annenmühle stand, trat sie zu mir. Ihre zarten Finger umschlossen meine grobe
Hand, und sie lächelte mir zu. Die Tür zur Mahlstube stand offen, soeben kamen einige Besucher heraus. Wir traten ein.
Wortlos bestaunten wir das mächtige Mahlwerk, wortlos lauschten wir dem Poltern des Wasserrades, das ihre Schwester getötet und sie selbst in eine Sterbliche verwandelt hatte. Auf einem Tisch
neben dem Eingang wurden Reiseandenken verkauft. Ansichtskarten, hölzerne Flussjungfrauen, ein eigentümliches Gebilde aus Glas. Etwas bewegte sich darin.
Ich begriff, dass es sich um einen Zeitmesser handelte, um eine Art Sanduhr. Anstelle des Sandes befanden sich im Gehäuse grüne Perlen. Sie fielen auf ein kleines, gelbes Wasserrad, das sich
unablässig drehte. Wenn die Perlen alle durch den Glasboden gefallen waren, konnte man das kleine Schmuckstück umdrehen und die Perlen tropften auf ein zweites Wasserrad, gleichmäßig und
unermüdlich, eine Perle auf jede Schaufel.
Gebannt verfolgte Klara den Lauf der grünen Perlen. Ich wusste, dass sie nun ihren schönen Kirschmund ein wenig öffnen würde, wie immer, wenn sie etwas aufmerksam betrachtete. Perle um Perle fiel
auf das kleine gelbe Wasserrad und drehte es immer weiter. Als Klara sich nicht bewegte, umrundete ich den kleinen Holztisch und suchte ihren Blick. Da sah ich, dass sie Tränen in den Augen
hatte.
Das Wasserrad wurde unser Begleiter. In ruhigen Stunden schauten wir den grünen Perlen zu, wie sie das Wasserrad drehten. Das Kleinod erinnerte uns daran, dass wir am Leben waren. Wir lebten,
aber wir lebten nur ein Menschenleben. Ein einziges, kurzes Menschenleben, das aus einigen Millionen grüner Perlen bestand.
Wir lebten es, dieses Leben, und wir liebten es. Wir liebten uns, und wir liebten auch die anderen Menschen. Als das Wasserrad vom Kaminsims fiel und zerbrach, dachten wir nicht mehr so oft an
unsere Vergänglichkeit. Aber unser Leben verging doch. Es verging schnell, und dann kam der Tag, an dem unsere Zeit abgelaufen war.
*
Die Krankenschwester stand auf und verließ den Raum. Für eine Rauchpause, vermutete ich. Dann hörte ich, wie sich noch jemand bewegte. Es war Klara. Einen Augenblick später lag sie auf mir und
klammerte sich an meiner Hand fest. Ich spürte Todesangst, genau wie damals, als sie mich in den Fluss gezerrt hatte. Hilfe, wollte ich rufen, aber ich brachte nur ein lautes Schnaufen heraus.
„Liebster“, hauchte Klara. „Hörst du mich?“
Ich verstand, dass sie keine Zeit mehr hatte. Mit großer Anstrengung schaffte ich es, ihren Händedruck zu erwidern.
„Liebster“, flüsterte sie noch einmal. Ich merkte, dass sie weinte. „Vielen Dank für dieses Leben. Es war ein wunderbares Leben. Erinnerst du dich an das Wasserrad?“
Ich hatte das kleine gelbe Rad sofort vor Augen gehabt, als sie zu sprechen begonnen hatte. Ganz, ganz langsam hatte es seine letzte Runde gedreht. Nun fiel die allerletzte grüne Perle durch den
dünnen Glasboden. Ganz still lag Klara an meiner Brust.
Ich spürte ihre Wärme. Ein allerletztes Mal genoss ich diese wohltuende, alles durchdringende Wärme, die mich mein ganzes Leben hindurch getragen hatte. Dann ging auch ich.
Du kannst diesen Text auf facebook kommentieren oder mir ein E-Mail schreiben.
Kommentar von B. aus Mönchengladbach:
Wirklich schöne Geschichte. Meine "Beim-Kaffee-Morgengeschichte" heute. Danke. :D
Kommentar von L.:
Ein altbekanntes Thema schön dargestellt.