Letztens machte mir ein guter Freund den Vorschlag, in einer Restauration meiner Wahl etwas essen zu gehen. Ich war begeistert und schlug das Gasthaus „Zum Goldenen Gulasch“ vor. Eine schlechte Wahl, informierte mich mein Freund, denn das „Goldene Gulasch“ werde im Internet mit lediglich 4,2 von 5 möglichen Sternen bewertet. Er schlage also vor, die Gaststätte „Zum Silbernen Schnitzel“ aufzusuchen und dortselbst ein Jägerschnitzel zu verzehren, denn besagtes Lokal könne mit 4,3 Sternen aufwarten, und das Jägerschnitzel sei ganz vorzüglich, laut Internet.
Gesagt, getan. Wir begaben uns ins „Silberne Schnitzel“, nahmen im Gastgarten unsere Plätze ein und studierten mit größter Aufmerksamkeit die Speisekarte, welche, wie wir bereits im Internet in
Erfahrung gebracht hatten, von beträchtlichem Umfang war. Schließlich legte mein Gegenüber die Karte auf den Tisch, schob seinen Zwicker in die rechte Position und sah mich streng an: Er könne
mir kraft seiner Expertise das Jägerschnitzel empfehlen. Als zusätzlichen Gaumenschmaus schlage er einen gemischten Salat vor. Einen kleinen gemischten Salat, denn für Restaurantkritiker gezieme
es sich nicht, sich den Bauch vollzuschlagen. Man habe dann kein Gespür mehr für geschmackliche Nuancen, was sich negativ auf die beim Bewerten unbedingt notwendige Objektivität auswirken könne.
Ich bedankte mich höflich für die wertvollen Ratschläge, wir taten dem Ober unsere Wünsche kund und unterhielten uns alsdann gepflegt über das Wetter und über die allgemeine Politikverdrossenheit
in der Bevölkerung. Dabei nahm ich zur Kenntnis, dass mein Gegenüber mehrmals nervös auf das Ziffernblatt seiner Taschenuhr blickte. Schließlich holte er ein kleines Notizbuch und einen Bleistift
aus der Tasche und notierte etwas. Dann kamen das Schnitzel und der Salat.
Wir aßen kultiviert und langsam, ab und zu schrieb mein Freund etwas in sein Notizbüchlein. Schließlich tupfte er sich die Lippen mit seiner Serviette ab, legte Messer und Gabel sorgfältig
nebeneinander und schlug mir vor, das Essen mit 3,8 Sternen zu bewerten.
„Warum denn so wenig?“, erkundigte ich mich empört. Das Schnitzel sei, soweit ich das beurteilen könne, von hervorragender Konsistenz gewesen, und knusprig obendrein. Er finde es höchst
ungebührlich, meinte mein Freund, eine halbe Stunde auf das Essen warten zu müssen. Das Schnitzel sei nicht schlecht gewesen, hätte allerdings ein wenig größer ausfallen können. Zudem sei es ohne
Preiselbeeren serviert worden. Er könne Preiselbeeren zwar nicht ausstehen, aber Tradition sei Tradition, und unerhörte Versäumnisse seien nun einmal unerhörte Versäumnisse.
Ich musste mich geschlagen geben, entschloss mich aber dazu, für den Salat Partei zu ergreifen. Selbiger habe hervorragend gemundet und sei sogar mit Eiern und Sonnenblumenkernen bestückt
gewesen, schwärmte ich. Ich fordere somit fünf Sterne für den Salat. Mein Freund wedelte strafend mit dem Zeigefinger. Der Salat sei mindestens acht Stunden alt gewesen und so ölig, dass sich die
Kartoffeln beinahe aufgelöst hätten. Wir einigten uns auf 3,5 Sterne.
Als er meinen bekümmerten Blick sah, schlug er vor, Wein zu bestellen, und als er sah, dass mich der Wein lustig machte, bestellte er noch eine Flasche. Wir wurden immer betrunkener und immer
ausgelassener, und dann bewerteten wir diesen verdammten Saftladen, wie er sein Lebtag noch nicht bewertet worden war.
Ich beantragte grölend viereinhalb Sterne für den Kellner, denn dieser sei freundlich und trage sogar eine Krawatte. „Ich hasse Krawatten“, gluckste mein Freund, schrie dem Kellner, der uns
soeben die dritte Flasche brachte, „Zwei Sterne“ ins Gesicht und machte sich eine entsprechende Notiz.
„Drei Sterne für die Blumen auf dem Tisch“, johlte mein Freund, was ich auf einen Stern korrigierte, weil mir die Rosen unpassend erschienen. Ich warf sie ihm ins Gesicht und zeichnete die Kerze,
die neben der Blumenvase stand, mit zwei Sternen aus. Mein Gegenüber handelte mich auf null Sterne herunter, weil die Kerze nicht angezündet war. „Null Sterne für dein dämliches Notizbuch“,
lallte ich, und mein Freund haute so wütend auf den Tisch, dass dieser zusammenbrach und folgerichtig ebenfalls mit null Sternen bewertet wurde.
Zuhause begab ich mich eiligst ins Internet und bewertete das „Gasthaus zum Silbernen Schnitzel“ mit 1,7 Sternen. Der erste Eindruck sei ganz gut gewesen, schrieb ich, aber das Schnitzel habe
nicht gehalten, was es versprochen hatte, und der Salat sei ganz und gar ekelhaft gewesen. Die Tische seien eine Zumutung, und der Kellner mitsamt seiner blöden Krawatte ebenfalls.
Danach legte ich mich betrunken ins Bett und ließ mir von meiner Mutter eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen, welche ich mit 4,1 Sternen bewertete. Sie gab mir einen Gute-Nacht-Kuss, ich murmelte
„3,9“ und schlief sofort ein. In der Früh bewertete ich mein Bett mit 4,7, meinen Traum mit 1,6 und das Weckerklingeln mit 0,0.
Mein Aussehen im Spiegel an diesem Morgen war mir 3,6 Sterne wert, mein zerknittertes Hemd bedachte ich mit 3,1 Sternen, das Frühstück, das meine Mutter mir richtete, mit 4,2, und ihre Wortwahl,
als sie mir nahelegte, auf derartige Bewertungen künftig zu verzichten, mit 0,2. Die Ohrfeige, die ich als Zugabe kassierte, kam auf glatte 0,0 Sterne. Als ich das Haus verließ, bewertete ich das
Wetter mit 2,5 Sternen und den Zustand unseres Gartenzaunes mit 1,3.
Mein Leben bekam dadurch, dass es sich meinen Bewertungen unterziehen musste, nach und nach schärfere Konturen, und dann bewertete ich meine Liebste mit 3,5 Sternen und wurde am selben Tag von
ihr verlassen. Ich meldete mich im Internet bei einer Partnerbörse an, lernte einige Damen kennen, bewertete ihr Aussehen und ihren Charakter und machte mich alsdann auf die Suche nach etwas
Besserem. Als mich die Damenwelt im Internet zunehmend ignorierte, kam ich auf die Idee, meine eigenen Bewertungen durchzulesen. „Schiache Nase“, stand da geschrieben. „Nicht ganz normal. Immer
am Kritisieren. Hat wohl nix Besseres zu tun.“ Mein Marktwert im Internet: 0,7 Sterne.
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