Die Vermeidung

Wenn ich etwas nicht kann, wähle ich zwischen zwei Strategien: Entweder, ich tue so, als ob ich es kann, oder ich tue es eben nicht. Vor allem die zweite, die Vermeidungsstrategie, hat mir in peinlichen Situationen oft geholfen, mein Gesicht zu wahren.


Nicht so, als eine ehemalige Mitschülerin letztens zum Klassentreffen nach Hamburg einlud: Das Rathaus wollte sie uns zeigen, die Reeperbahn und, am nächsten Tag, den Hafen. Gut, dachte ich mir. Ein Rathaus haben wir in Wien auch, und für Rotlichtviertel bin ich zu seriös. Aber so eine Hafenrundfahrt, das könnte mir gefallen.


Ich verfasste also meine Antwort. Liebe Kollegin, schrieb ich, was für eine prachtvolle Idee! Am Donnerstag bin ich leider unabkömmlich. Aber bei einer Schifffahrt am Freitagabend würde ich gerne dabei sein.


Dann stutzte ich. Schifffahrt, mit drei f. Da konnte doch etwas nicht stimmen. Am Freitagabend? Vielleicht doch besser am Freitag Abend? Am Freitag abends? Und wie war das mit dem Dabeisein? Vielleicht war es doch eher ein Dabei sein?


Ich schluckte und entschied mich für die Vermeidungsstrategie: Wenn ihr eine Bootsfahrt zustande bringt, würde ich nicht zuhause bleiben! Zu Stande bringt? Zu Hause bleiben?


Ich schluckte noch einmal. Dann räusperte ich mich und schrieb: Wollen wir vielleicht etwas anderes machen? Etwas – Anderes?


Ich keuchte. Es blieb mir ein letzter Ausweg. Ich musste meinen Vorschlag konkretisieren: Sollten wir vielleicht doch lieber Rad fahren oder spazieren gehen? Radfahren? Spazierengehen?


Ich wimmerte. Deine Pläne interessieren mich nicht, schrieb ich. Lass mich in Ruhe, du alte Hexe. Ich will zu meiner Mama. Dann setzte ich mich auf mein Bett und weinte.


Seit der Rechtschreibreform ist eben vieles anders. Vieles? Vielleicht auch alles. Ich weiß es nicht.

 

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Ich will zu meiner Mama. (pixabay.com)
Ich will zu meiner Mama. (pixabay.com)

Kommentar von R. aus Baden:

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