Ich habe erstaunt festgestellt, dass die meisten Menschen Abenteuern grundsätzlich aus dem Weg gehen. Sie bevorzugen ihre tägliche Routine und sind auch im Urlaub gerne so unaufregend wie möglich unterwegs – was voll in Ordnung ist. Wer das ganze Jahr lang geschuftet hat, darf, wenn er das aushält, natürlich vierzehn Tage am Stück irgendwo im Sand liegen. Trotzdem möchte ich an dieser Stelle alle ermuntern, sich ab und zu auf ein Abenteuer einzulassen.
Was mich betrifft: Ich bin Abenteuern – im Sinne von spannenden Ausflügen oder Reisen – nicht abgeneigt. Wobei oft – gewollte – Planungslücken für die unerwarteten Wendungen sorgen, die letztlich
in echte Abenteuer ausarten.
Über den Begriff des „echten Abenteuers“ lässt sich natürlich trefflich streiten, aber das ist nicht der Sinn dieses Artikels. Für einen Otto-Normalabenteurer wie mich sind Situationen wie diese
aufregend genug:
November 2009, Nicaragua. Ich beschließe spontan, den Vulkan Maderas zu besteigen, der aus dem Nicaraguasee aufragt. Der Vulkan erhebt sich keine 1.400 Meter über das Wasser, ist nicht dazu
angetan, dem Betrachter Respekt einzuflößen, und der Weg beginnt gleich hinter meinem Domizil. Ich unterschreibe dem Herbergsvater eine Erklärung, dass ich aus freien Stücken auf einen Bergführer
verzichte, packe mir ein paar Brote ein und los geht’s. Der Weg ist stark verschlammt, ich habe nur Turnschuhe dabei. Trotzdem erreiche ich relativ schnell den Kratersee, einen höchst
atmosphärischen Schlammtümpel, der, wenn die Sonne nicht scheint, am ehesten Weltuntergangsstimmung vermittelt. Ich beschließe, auf das Schwimmen heute zu verzichten und mache mich, als es heftig
zu regnen beginnt, auf den Rückweg. So weit, so gut, nur haben sich die schlammigen Wege mittlerweile in kleine Sturzbäche verwandelt. Nicht, dass ich ein Problem mit Wasser und Dreck hätte, nur:
Ich kann die Trampelpfade von vorher nicht mehr von echten Bächen unterscheiden. Immer wieder entscheide ich mich an einer Kreuzung falsch, muss zurückwaten und die nächste Variante ausprobieren.
Irgendwann habe ich bereits einige hundert Höhenmeter hinter mich gebracht, als mir klar wird, dass ich mich schon wieder für ein echtes Bachbett entschieden habe. Ich beschließe, dass das
Bachbett gut genug ist für einen Abstieg, die Piste, die auf Seehöhe um die ganze Insel herumführt, ist ohnehin nicht zu verfehlen.
Dann stehe ich am oberen Rand eines gut drei Meter hohen Wasserfalls und kann nicht ausweichen. Ich verliere keine Zeit und mache mich daran, hinunterzuklettern. Bumm – schon liege ich unten, ich
bin schneller abgerutscht, als ich schauen kann. Nichts gebrochen, sehr gut, weiter geht’s, wieder ein Wasserfall – bumm. Turnschuhe geben im Gelände wirklich nicht viel her.
Ich rutsche und marschiere weiter durch Wald und Wasser, während mir die Brüllaffen, die hier in großer Zahl heimisch sind, ins Ohr schreien. Ich verfluche alle Entscheidungen, die ich an diesem
Tag getroffen habe, aber dann stoße ich plötzlich auf einen Weg. Der Weg führt durch einen schönen Bananenhain, und über mir bilden zwei Brüllaffeneltern ihr Junges aus: Der Affenpapa setzt das
Baby auf dünne Äste, wo es sich verzweifelt festkrallt und um Hilfe schreit. Dann kommt die Affenmama vorbei und setzt sich das Kleine wieder auf den Rücken. In der allerletzten Abenddämmerung
stehe ich plötzlich auf der Inselstraße. Was gut ist, denn eine Taschenlampe hab ich auch nicht mitgenommen.
Auf die Schilderung dieser und ähnlicher Episoden habe ich bisher verzichtet, weil ich nicht gerne meinen Geisteszustand infrage gestellt sehe. Aber es ist halt, wie es ist – du änderst spontan
deine Pläne, hast nicht die richtige Ausrüstung dabei, nimmst eine falsche Abzweigung und – voilà! Am Ende des Tages freust du dich, überhaupt noch nachhause gekommen zu sein.
Abenteuer haben für Leute wie mich also immer viel mit Spontanität und unerwarteten Wendungen zu tun – was aber keinesfalls (wie das Beispiel vielleicht suggeriert) bedeutet, dass sie gefährlich
sein müssen. Auch spontane Ausflüge an besser erschlossene Orte und angenommene Einladungen sorgen auf Reisen oft für Abwechslung und Abenteuer.
Andere Leute pflegen einen Lebensstil, der zwangsläufig zu Abenteuern führt. Ein Beispiel dafür ist Sergej Bolaschenko, auf dessen Webseite (russisch) ich gestoßen bin, als ich mich im Internet über sachalinische Feldbahnen informierte (Solche Dinge recherchiert man, wenn man eine große
Russland-Karte überm Bett hängen hat und ab und zu plötzlich vom Fernweh gepackt wird).
Sergej, ein Russe aus einfachen Verhältnissen, begann im Alter von 13 Jahren damit, alle aktiven und ehemaligen Eisenbahnstrecken Russlands und der GUS-Staaten zu bereisen und diese Reisen zu
dokumentieren. Immer wieder wurde er, wenn er an verlassenen Bahnstationen übernachtete oder sich im Umkreis entlegener Siedlungen bewegte, ausgeraubt, attackiert und von der in den Neunzigern
noch sehr willkürlich agierenden russischen Miliz aufgegriffen (und ausgeraubt). Manchmal schlief er im Wald, manchmal bat er in abgeschiedenen Ortschaften neugierige Bewohner um ein
Nachtquartier. Wenn er einen Fluss überqueren wollte, baute er sich selbst ein Floß. Eines seiner zahlreichen Abenteuer ereignete sich auf der besagten Insel, Sachalin:
Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte jemand die originelle Idee, eine Schmalspurbahn zu bauen, um den bis dahin unbewohnten Osten der Insel zu erschließen. Um in die Waldarbeiter-Siedlung
Trudowoje zu gelangen, ist es zunächst nötig, den Poronaj-Fluss zu überqueren, eine Brücke gibt es nicht. Hat man es über den Fluss geschafft, führt der einzige Weg ins Dorf über einen 50
Kilometer langen Schienenstrang. Dieser war im Jahr 2006, obschon bereits arg zugerichtet, zur Not noch mit Motordraisinen befahrbar, mittlerweile ist er demontiert. Die Trudowojer Holzfabrik als
einziger nennenswerter Arbeitgeber hatte bereits Anfang der 1990er-Jahre ihren Betrieb eingestellt. Man kann sich also vorstellen, welche Zustände in diesem Dorf herrschten, als Sergej 15 Jahre
später dort ankam. Auf Sergejs Homepage findet sich ein offener Brief der Einheimischen mit dem Titel „Das vergessenen Trudowoje“ aus dem Jahr 2005. Er beginnt mit dem Satz „Wir, die Einwohner
des Dorfes Trudowoje, möchten darauf aufmerksam machen, dass wir noch am Leben sind und nicht sterben wollen.“ Dass es mit dem Sterben in Trudowoje gar nicht so weit her ist, erfuhr Sergej nach
seiner Ankunft: Ein mehrfacher Mörder lud ihn zum Wodkatrinken ein und versprach, ihn im Falle einer Absage umzubringen. Sergej lief davon, woraufhin der Täter mehrere Schüsse abfeuerte, aber
glücklicherweise nicht traf.
Noch abgebrühtere Abenteurer sind häufig Bergsteiger. Die Liste ist lang und enthält große Namen aus den unterschiedlichsten Epochen: Hermann Buhl, Toni Kurz, Maurice Herzog, Reinhold Messner.
Dazu kommen die vielen weniger bekannten Extrembergsteiger, die nicht minder spektakuläre Routen in Angriff genommen haben: Zum Beispiel Jon Krakauer, ein US-Amerikaner, der im Alter von 22
Jahren als Erster die Nordwand des Devils Thumb durchsteigen wollte. Im Vorwort zu „Into the Wild“ schildert er eindringlich die schwierige Anreise, das Alleinsein, die Anstrengung und die
Gefahr: Zwischen Leben und Tod liegt manchmal nur die Spitze eines Eispickels. Die Solo-Expedition misslang, er überstand sie aber unbeschadet, und stand ein paar Jahre später dann doch noch auf
dem Gipfel: Das Glück und die Freiheit, die er in diesem Moment gefühlt haben muss, werden wir in dieser Intensität wohl nie erleben.
Menschen wie Sergej Bolaschenko und Jon Krakauer, die sich die Welt auf ihre Weise aneignen, ohne danach zu fragen, ob das Sinn macht oder nicht, Menschen wie diese sind es, die die „echten
Abenteuer“ erleben. Denen kann unsereins nicht das Wasser reichen.
Nicht jeder kann ein großer Abenteurer sein. Das ist aber auch gar nicht notwendig. Für den Anfang genügt es, ab und zu spontan zu sein und dem Zufall eine Chance zu geben. Nicht unbedingt in den
Bergen, da sind schon viele heruntergefallen, aber zum Beispiel bei der Wahl eines Urlaubsziels. Oder eines Transportmittels. Oder indem man eine Reise in ein unbekanntes Land selbst organisiert,
anstatt die siebzehnte Gruppenreise in Folge zu buchen.
Warum man Abenteuern nicht grundsätzlich aus dem Weg gehen sollte? Weil das Leben für langweilige Urlaube einfach viel zu kurz ist.
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