Caroline

Sommer 2014, ich begleite eine Gruppe US-amerikanischer Schüler durch das KZ Mauthausen. Nach zwei Stunden voller Gedenktafeln und Gaskammern klettern wir wieder in den Bus und ich stelle mich den Kindern. Caroline, das kleinste Mädchen in der Reisegruppe, hat Tränen in den Augen. Tränen und eine riesengroße Frage: WARUM? Sie wartet verzweifelt auf die Erklärung für etwas, was sie nicht verstehen kann: Wie können Menschen so unfassbar grausam zueinander sein? Und: Warum hat niemand etwas dagegen getan?


Der Blick ist flehend, die Frage nach dem Warum muss sofort beantwortet werden. Das ist aber gar nicht so einfach.


Ich hätte Caroline mit ein paar Gegenfragen helfen können, selbst eine Antwort zu finden. Ich hätte sie zum Beispiel fragen können, wo ihre Eltern waren, als George Bush und seine Spießgesellen von der NATO im März 2003 den Irak attackierten und damit begannen, hunderttausende Iraker abzuschlachten. Waren sie auf der Straße? Bestimmt nicht. Aber das würde den Rahmen sprengen, denn Caroline ist erst elf.


Also erzähle ich Caroline und den anderen Kindern im Bus von dem stillen Vorwurf, der auf unserer Urgroßeltern-Generation lastet. Und davon, dass es ziemlich einfach ist, anderen Menschen etwas vorzuwerfen, wenn man nie in ihrer Situation war.


Ich erzähle ihnen, dass es relativ einfach ist, verzweifelte Menschen zu verführen – wenn es zuhause am Nötigsten fehlt, lässt man sich gerne mit Versprechungen ködern. Die politische Entwicklung begreift man, wenn man keine Erfahrungswerte hat, vielleicht erst, wenn es schon zu spät ist.


Haben die Menschen gewusst, was da passierte? Natürlich haben sie es gewusst. Die Schulkinder von Mauthausen haben Lieder über die Juden gesungen, die beim Rauchfang herauskommen. Aber wer ist, wenn es darauf ankommt, wirklich bereit, sein Leben für andere einzusetzen? Und wie genau soll man das anstellen?


Ich erzähle, dass es Widerstand gegeben hat. In ganz Österreich haben bis zu 100.000 Menschen Widerstand gegen die Nazis geleistet. Viele von ihnen sind unbekannt geblieben, einige haben ihren Widerstand mit dem Leben bezahlt. In dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, haben zwei Bäuerinnen im Frühling 1945 mit eigenen Händen eine Höhle gegraben und dort wochenlang insgesamt 23 Juden versteckt, die andernfalls getötet worden wären. Im Jahr 2009 wurden die zwei Heldinnen schließlich geehrt.


Aber der Widerstand kam eben zu spät, und er war nicht stark genug. Denn die meisten Menschen verhalten sich immer passiv, das ist einfach so. 15.000 Menschen gehen in Wien auf die Straße, wenn gegen demokratisch fragwürdige Handelsabkommen demonstriert wird (Ein alter Bekannter, den ich im September 2016 zufällig auf der CETA-TTIP-Demo traf, erzählte mir, dass er mehr als 20 Freunde gefragt hatte, ob sie mitkommen wollten. Niemand war der Einladung gefolgt). Und auch in Gorleben haben im November 2011 nur ein paar tausend Demonstranten die Straße zum Atommülllager blockiert. Wenn es nicht einmal Atomkraftwerke wert sind, bekämpft zu werden – was dann?


Liebe Leute, wie schwierig ist es, in einem Land, das deine Meinungsfreiheit garantiert, auf die Straße zu gehen? Gar nicht schwierig, genau. Und trotzdem tuts keiner. Warum sollte das Anfang der 30er-Jahre, als sich die Gesinnung der Nazis erst nach und nach immer deutlicher zeigte, so anders gewesen sein? Irgendwann wars dann halt zu spät.


Nachdem die Schüler einer kalifornischen Highschool-Klasse im Jahr 1967 ihr Unverständnis über die gesellschaftliche Dynamik der Nazizeit geäußert hatten, führte ihr Geschichtelehrer ein Experiment mit ihnen durch: Innerhalb von fünf Tagen brachte er seine Schüler dazu, ihm – dem Diktator – blind zu gehorchen, und führte allerhand Analogien zur Nazigesellschaft ein: Bereits am zweiten Tag verwendeten die Schüler auch außerhalb des Klassenzimmers einen abgewandelten Hitlergruß. Am dritten Tag wurden Schüler, die sich nicht an den Regelkatalog hielten, von Eiferern denunziert. Man braucht wenig Fantasie, um sich vorzustellen, was die Schüler getan hätten, wenn sie aufgefordert worden wären, Dunkelhäutige zu sekkieren, oder Rothaarige. Die meisten Menschen sind Mitläufer und werden immer mit den Hunden jaulen.


Caroline ist elf und geht in die Schule, deshalb reden wir noch ein bisschen über Schulen.


In allen Schulen gibt es bekanntlich Mobbing. Und in allen Schulen gibt es bekanntlich nur einige Wenige, die etwas gegen dieses Mobbing tun. Weil man, wenn man gegen Tyrannen kämpft, zur Belohnung meist selbst tyrannisiert wird. Da ist man lieber schön still, auch, wenn man durch ein kleines bisschen Widerstand eigentlich recht wenig riskiert: Ein paar Leute, die einen nicht mögen, sowas kann man aushalten.


Es beginnt in der Schule, Caroline.
 

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Kommentar von F. aus Graz:

Sehr gelungener Text! Er zeigt gut, dass die Menschlichkeit eigentlich immer an einem seidenen Faden hängt, und warum Glaube an sie so wichtig ist.