Der heilige Schrein

Die Schließfächer funktionieren nicht. Seit zehn Minuten tippen meine Freundin und ich Codes ein, drücken mit zunehmender Intensität Türchen zu und sehen diese verfluchten Türchen in der nächsten Sekunde wieder aufspringen. Schließlich werfen wir unsere Rucksäcke und die Winterjacken entnervt in ein Einkaufswagerl. Die Ikea-Exkursion kann beginnen.


Am Samstagnachmittag, so scheint es, hat die ganze gelangweilte Nation nichts anderes zu tun, als zu Ikea zu fahren, oder vielmehr: Zu pilgern! In riesigen Scharen machen sich die Österreicher auf den Weg zum heiligen Schrein, einem blau-gelben Kasten mit billigen Möbeln. Was heißt da Möbel, zischen die Ikea-Apostel jetzt empört, hier geht es um viel mehr. Hier gehts um das große Ganze. Um ein Lebensgefühl. Um den neuen Lifestyle.


Als wir uns dem Eingang nähern, spüre ich die Euphorie, die uns umgibt. Überall Lippen, die geleckt werden, glänzende Erwachsenenaugen. 300 andere Kaufwütige haben dasselbe Ziel wie wir. 300 jackenbeladene Einkaufswagerl werden zum Eingang des Schreins gestoßen. Zum Schreingang, sozusagen. Staubildung. Wir halten eine letzte Einsatzbesprechung ab, gehen noch einmal Punkt für Punkt unsere Strategie durch: Vorhangabteilung suchen, Vorhänge auswählen, Ausgang finden. Der Plan ist perfekt, der Weg ist frei. Die Wallfahrt nimmt ihren Anfang. Wir kommen gut vorwärts, ein Frontalzusammenstoß hier, ein überfahrenes Kind da, sowas kann uns nicht aufhalten.


Je weiter wir uns vom Eingang des Konsumtempels entfernen, desto voller werden die Einkaufswagerl, die wir überholen. In ihnen türmen sich all die schönen bunten Dinge, die man eigentlich nicht braucht, zu deren Kauf man auf dem fünfzehn Kilometer langen sternförmigen Parcours vom Eingang bis zur Kassa aber verleitet wird: Schwimmkerzen, Plastikboxen, winzig kleine „Gäste-Handtücher“ um fünfzig Cent, Pferde-Kuchenbackformen und irgendwelche grünen Sachen in Plastiktöpfen. Nicht zu vergessen der Topfhandschuh „Stinn“ und das blütenweiße Geschirrtuch „Tekla“, die von den eifrigen Ikea-Aposteln in ihre Einkaufswagen gestopft werden, während ihnen der Schaum vom Munde tropft! Und oben drauf auf dem ganzen Unsinn sitzt der gelangweilte Nachwuchs mit seinem Smartphone, sofern darauf vergessen wurde, den Sprößling im Ikea-eigenen Kindergarten auszusetzen.


Ich hege den Verdacht, dass manche Kinder mehr Kontakt zur Ikea-Kindergartentante haben als zu ihrer Mutter. Der Nachwuchs soll sich frühzeitig an den Ikea-Tempel gewöhnen, denn dieser spielte in seinem kurzen Leben eine weitaus wichtigere Rolle, als so ein Dreikäsehoch denkt: Bereits zehn Prozent der heute lebenden Europäer wurden in einem Ikea-Bett gezeugt! Einige wurden bestimmt auch darin geboren, und getauft wird man heutzutage mit der Suppenkelle „Hjälte“ oder mit der Blumenvase „Blomfäste“.


Wir brauchen Vorhänge. In der Vorhangabteilung stellen wir fest, dass es durchsichtige Vorhänge gibt, durchscheinende und blickdichte. Einsatzbesprechung. Wir wollen blickdichte. Die Auswahl ist groß, grau ist billiger als lila. Und anständiger, finden wir. Die angebotenen Modelle sind ausnahmslos drei Meter lang, unser Zimmer ist zwei Meter hoch. Wir brauchen Hilfe und halten Ausschau nach Ikea-Priestern oder -Angestellten, diese haben sich aber offenbar alle längst in Sicherheit gebracht. Ein Aufkleber befreit uns aus dem Dilemma: Wir können die Vorhänge beim Ikea-Nähservice kürzen lassen, steht da, oder ein aufbügelbares Band kaufen, mit dem der Vorhang umgeschlagen und festgeklebt werden kann. Das Bügelband kostet 3,99 € und ist irgendwie geil, also nehmen wir es mit. Drei Stunden später stehen wir an der Kassa.


Anschließend gesellen wir uns, weil wir mittlerweile völlig dehydriert und halb verhungert sind, zu den 300 anderen Gourmets, die im Ikea-Restaurant selbstbewusst zwanzig Minuten in der Schlange stehen, um dann mit heiligem Ernst an der Wand stehend ein paar Fleischbällchen zu verzehren. Dass die skandinavische Cuisine europaweit wohl die fadeste ist, hat für uns Ikea-Jünger keine Relevanz.


Nachdem wir unser Mahl beendet haben, warten wir auf das Ikea-Shuttle: Der Gratisbus bringt uns zurück zu unserem traurigen Leben in der Gosse. Unterwegs gibt es einen kleinen Unfall, als der Busfahrer nach einer unübersichtlichen Kurve plötzlich auf die Bremse springt. Ein zwei Meter hoher, bleischwerer Karton, den jemand zwischen zwei Sitzreihen gestellt hatte, fällt auf meinen Kopf, doing. Der Besitzer des verpackten Möbelstücks entschuldigt sich nicht. Wahrscheinlich ist es eine Ehre, von einem Ikea-Schrank erschlagen zu werden.

 

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(pixabay.com)
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