Russland unzensiert VIII

Russland, das ist das Land, wo die Rolltreppe einer U-Bahn-Station, an der jahrelang gebaut wurde, bereits am Tag der feierlichen Eröffnung kaputt ist (und kaputt bleibt, der Status quo ist sieben Monate nach Inbetriebnahme derselbe). Russland, das ist auch das Land der Herzlichkeit. Der Stirnfransen (bei Frauen), Nackenwellen (bei Männern), Marschrutkas, Gelsen, Wasserpfeifen, Großmütter, Schlafwagenzüge, Datschas, Stöckelschuhe, Plattenbauten, Krabbenchips, Wasserkocher, Teetassen, Palatschinken, Saunas, Einkaufszentren, Kremls, Lenin-Statuen... Kurz, ein interessantes Land. Nach zwei Semestern in Nischni, in denen ich mir den Kopf darüber zerbrochen habe, was denn die Russen nun eigentlich für Leute sind, packe ich heute Abend meinen Koffer und fahre nachhause.


Nischni hat sich seit Ende August letzten Jahres geringfügig verändert, und einige seiner Bewohner auch. Zum Beispiel wurden die uralten sowjetischen Marschrutkas, vermeintlich für die Ewigkeit gebaut, in den letzten Monaten zunehmend durch moderne, wieselflinke Minibusse ersetzt. Im Spar an der Belinka verkaufen sie jetzt Zotter-Schokolade, Gurken aus dem Seewinkel und Marillenmarmelade aus der Wachau. Artjom lernt zwar noch immer nichts für die Uni, spekuliert dafür aber mit Aktien und fühlt sich ganz als Geschäftsmann. Er hat mir dazu geraten, Sexromane zu verfassen und damit eine Menge Geld zu verdienen. Mit Pascha, der seit jeher vergeblich versucht, mich für extreme Sportarten zu begeistern, habe ich zuletzt doch noch ein gemeinsames Interesse gefunden, und wir haben uns u.a. einen neuen Film über Juri Gagarin angeschaut (Über Neil Armstrong spricht in Russland niemand, dafür ist Gagarin für die Russen sowas wie der Opa vom Bladen für die Nordkoreaner).


Russland ist aufregend, originell und immer wieder sehr leiwand, aber vielfach auch vor allem eines: Ein beinhartes Pflaster. Für die Russen selbst, wenn sie beispielsweise aus der breiten finanziellen Unterschicht oder unteren Mittelschicht kommen und ambitioniert sind, aber auch für manche Besucher, die sich in dieser Welt, die irgendwie sehr schön und irgendwie sehr hässlich ist, nicht zurechtfinden: Unter den Austauschstudenten, die nach Nischni kommen und die vorher nicht mit Russland konfrontiert waren, gibt es offenbar immer wieder welche, die gleich wieder abreisen, oder aber an Ort und Stelle depressiv werden.


In so einem harten Umfeld muss man anpassungsfähig sein, das wissen in Russland sogar die Hunde: Markus, ein Freund aus Österreich, der ebenfalls ein Jahr in Nischni studiert hat, glaubt zu wissen, dass die Moskauer Straßenhunde im Winter die Nächte am Stadtrand verbringen – weil sicherer – und tagsüber mit dem Bus in die Innenstadt fahren – weil sie dort Essen finden. Und Zoryana schwört Stein und Bein, dass es in Nischni einen Köter gibt, der jeden Tag in der Früh mit dem 45er vom Kanawinskij-Bezirk ins Zentrum fährt und am Gorki-Platz aussteigt.

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Ich bin, genau wie alle anderen Leute, die versuchen, sich ein Bild von der Welt zu machen, abhängig von Stereotypen. Stereotypen helfen dabei, neue Erfahrungen zu verarbeiten und erleichtern den Alltag eines Weltreisenden wesentlich. Beispielsweise haben die Costaricaner, wenn man mich fragt, immer ein Lächeln im Gesicht, und die US-Amerikaner sind mindestens genauso manipuliert wie der Kukuruz auf ihren Feldern. Bei den Russen tu ich mir in dieser Hinsicht wesentlich schwerer: Fast alle Merkmale, die ich probeweise definiere, muss ich nach einem Abgleich mit der Realität wieder verwerfen. Es gibt zwar jeweils eine große Gruppe, auf die eine solche These zutrifft, aber ich stelle jedes Mal fest, dass die Gruppe derjenigen, die das glatte Gegenteil von der definierten ist, annähernd über dieselbe Mitgliederzahl verfügt... Sicherlich trägt das Leben in grauen Plattenbauten und auf vermüllten Straßen dazu bei, dass Leute depressiv werden und gewaltbereit, und in späteren Jahren dann genau so grau wie die Häuser, in denen sie leben. Andererseits hab ich noch nie so viele Altersgenossen an einem Ort getroffen, die, den Kindesbeinen längst entwachsen, wie Gummibälle durch die Welt hupfen und von frühmorgens bis spätabends alle anstrahlen, die ihnen über den Weg laufen. Und Zoryanas Opa ist einer der gemütlichsten und fröhlichsten alten Herren, denen ich bisher begegnet bin. Es gibt auch bestimmt ausreichend Leute in Russland, die sich den kalten Winter mit viel Bier (seltener: Wodka) vertreiben, aber: Im Gegensatz zu Österreich trinkt ein großer Teil der Studenten hier gar keinen Alkohol.

 

Russland lässt sich nicht so einfach in eine Schublade stecken, es bleiben viele kleine Fragezeichen. Und die werden mich auch in Zukunft immer wieder nach Russland locken.

 

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