Russland unzensiert VI

25. März 2013


Mitternacht in Nischni Nowgorod. Der Schneesturm legt sich allmählich, auf der Straße hat es minus zehn Grad. Die minus zehn hat es nicht erst seit gestern, sondern seit vier Monaten. Die Tage, an denen es seit Mitte November knapp über null Grad gehabt hat, kann man an zwei Händen abzählen (Die Tage, an denen es unter minus zwanzig Grad gehabt hat, auch). Seit Mitte Dezember haben wir durchgehend einen halben Meter Schnee. Als es Mitte Jänner einmal bis auf minus sieben Grad  aufgeheizt hat, bin ich laufen gegangen.
Für viele Mitteleuropäer ist „Russland“ nur ein anderes Wort für „Hölle“, und im Grunde ist das nachvollziehbar. An westlichen Maßstäben gemessen herrscht hier Anarchie, der russische Winter ist lang und bitter, die Leute im Geschäft und am Bahnhof begegnen einem in den allermeisten Fällen sehr unfreundlich, und von Petersburg und den Zentren einiger anderer Städte abgesehen sind russische Städte kreuzhässlich.


Insofern ist es vielleicht nicht besonders rational, wenn ich nach meinem ersten (und möglicherweise letzten) russischen Winter sagen muss, dass Russland für mich nichts von seiner Faszination verloren hat. Wo es geht, suche und finde ich das Schöne, und wo dies beim besten Willen nicht möglich ist, entwickle ich einen Sinn für das Schaurig-Schöne. Wenn ich vor hundert gleichartigen grauen Plattenbauten stehe, faszinieren mich die Menschen, die es fertig bringen, darin zu wohnen und dabei ein so unvergleichbar gastfreundliches Verhalten an den Tag zu legen. Ein Russe, der an der Supermarktkassa sitzt, hasst die ganze Welt (Anmerkung: Unter den weit über hundert Supermarktverkäufern, denen ich es bis dato zugemutet habe, mein Brot und meine prjaniki/Lebkuchen über das Band zu ziehen, gibt es genau eine Ausnahme, einen Verkäufer im Eurospar an der Belinka. Er ist, was an und für sich schon unerhört ist, männlich, um die 40 Jahre alt, und die Freundlichkeit in Person. Er grüßt mit einem Lächeln, verpackt Obst, Mehl und dreckige Erdäpfel noch einmal extra, wenn es ihm nötig erscheint, und streut bei Gelegenheit ein paar nette Worte ein – auch zu Weihnachten, wenn ihm eine Stoppuhr vor die Nase gestellt wird. Als er vor einigen Monaten meinen Akzent und wohl auch den einen oder anderen Fehler bemerkte, nahm er das zum Anlass, mir das Eurospar-Punktesystem zu erklären und mir auf die Rückseite meines Kassenzettels den Satz zu schreiben, den ich sagen müsse, wenn ich meine Punkte einlösen wolle. Wenn es auf dieser Welt einmal einen wahren Rebellen gegeben hat, dann ist es Leonid, der Supermarkt-Kassier). Sobald er aber zuhause ist, legt er sein weltberühmtes russisches „Straßengesicht“ ab und verwandelt sich in den gastfreundlichsten Menschen, den man sich vorstellen kann. Ich habe mittlerweile doch schon einige Kulturen kennengelernt, und gastfreundlich ist jede einzelne davon. Aber die Russen stechen unter all diesen gastfreundlichen Kulturen hervor, ich bin felsenfest davon überzeugt, dass sie noch einmal einen ganzen Tick gastfreundlicher sind als alle anderen (ausgenommen vielleicht die Süditaliener). „Mein Haus ist dein Haus“ ist ein Ausspruch, der oft leichtfertig getätigt wird. In Russland trifft er wirklich zu.

 


Die Uni


Wenn ich mich nicht irre, habe ich bisher kaum ein Wort über die Uni verloren. Das wird hiermit in aller Kürze nachgeholt.


Universität in Russland ist vom System her wie Schule in Österreich, nur noch unflexibler. Wissenschaftlich gearbeitet wird so gut wie nicht. Es werden fixe Klassenverbände gebildet und Wahlmöglichkeiten gibt es keine. Eventuell vorgesehene Wahlfächer werden vom Dekan für jeweils eine ganze Gruppe ausgewählt (zum Beispiel Informatik für die Übersetzer, was Lera ziemlich ärgert). Aktuell nehme ich an einigen interessanten Lehrveranstaltungen des 4. Jahrgangs teil, als Ausländer kann ich tun und lassen, was ich will. Hauptsächlich geht es um Übersetzen und Dolmetschen, auch Simultandolmetschen habe ich erstmals ausprobiert – wobei mir das Schreiben aber immer noch am liebsten ist. Fürs technische Übersetzen kann sich in der Gruppe nur eine Kollegin erwärmen, Nastja sprüht vor Begeisterung, wenn die Rede auf „einteilige Steilschulterfelgen“ etc. kommt. Außer mir sind in der Gruppe eine Italienerin und neun Russen, wobei die, die ein Jahr in Deutschland verbracht haben, teilweise ziemlich was auf dem Kasten haben.


Hörsäle nach österreichischem Verständnis gibt es hier nicht, in den recht unscheinbaren Unterrichtsräumen fällt allenfalls auf, dass alle Bankfächer usw. mit Kaugummis zugeklebt sind. Die meisten Dozenten, die ich bisher erlebt habe, meistern ihre Aufgabe souverän. Ein Unikat ist Tschikow, der ausgezeichnetes Deutsch spricht, wenn er will. Im Zweifelsfall wechselt er aber lieber innerhalb eines Satzes zwischen drei Sprachen, baut außerdem drei oder vier „jaja“ ein, fährt sich zwischendurch mit dem Finger in den Mund und produziert dort das Geräusch, das man hört, wenn man einen Stöpsel aus einer Badewanne zieht.


Zu den Fächern, die für alle Studenten der Linguistischen Universität verpflichtend sind, gehören Turnen (die guten alten „Leibesübungen“, hähä) und, was ich furchtbar lustig finde, Valeologie. Was eine deutsche Internetquelle als „Wissenschaft der Harmonie von Körper, Geist und Seele“ beschreibt, ist am INJAS, wie die Linguistische kurz genannt wird, nichts anderes als Knochenkunde. Die künftigen Übersetzer, Diplomaten, Englischlehrer usw. schlagen sich also nicht nur mit Fremdsprachen, Geschichte, Literatur, Wirtschaft und dergleichen herum, sondern auch mit den Knochen des menschlichen Körpers.


Ein Studium ist für die, die nicht „na bjudschete“ studieren, sehr teuer. Bzgl. der Schulgebühren ist zu sagen, dass der Schulbesuch in Russland bislang zwar offiziell kostenlos ist, die Schulen aber autonom alle möglichen Kosten festlegen, beispielsweise für Wachpersonal und Renovierungen. Außerdem erzwingen Lehrer von ihren Klassen konkrete Geschenke („Ich will eine Schweizer Uhr“), und wer nicht oder zu wenig zahlt, bekommt schlechte Noten, wird laut Katja, die mir von dem Problem erzählt hat, vermehrt zum Schulpsychologen geschickt und anderweitig drangsaliert. An russischen Unis sind Noten teilweise käuflich, wie in Russland prinzipiell alles gekauft werden kann (auch Führerscheine). Inwieweit dies an der Linguistischen passiert, die einen recht guten Ruf genießt, ist schwer zu sagen, ich habe bisher nur gehört, dass es nicht unüblich ist, mit einem Geschenk bei einer mündlichen Prüfung aufzutauchen.



Der Überwachungsapparat


Russland ist ein Land mit extrem hoher Polizeipräsenz. Polizeiautos schwirren überall herum, die Kiwara stehen gleichermaßen an Straßenecken und an Bahnstationen im Nirgendwo. An den zwei Eingängen in die Linguistische Uni sind jeweils mehrere Wächter postiert, und auch im Studentenheim gibt es ein Drehkreuz, an dem ein wachtjór sitzt. Selten, aber doch, tauchen im Studentenheim Polizisten in Zivil auf, die nachprüfen, wer in welchem Zimmer lebt.


Ein zusätzliches Überwachungssystem, das nur mehr historisch zu begründen ist (Nach der Wende wäre wohl niemandem mehr so ein Blödsinn eingefallen), sind unsere deschurnajas. Was diese unsere lieben Stockwerks-Beauftragten betrifft, deren Leben darin besteht, morgens einige Türen aufzusperren, in den Küchen die Gashähne aufzudrehen, dann mit der Putzfrau zu tratschen, mit den anderen Deschurnajas Kaffee zu trinken, abends die Mistkübel in der Küche auszuleeren, die Gashähne abzudrehen und die Türen wieder zuzusperren, hab ich meine Meinung etwas angepasst.


Auf den ersten Blick handelt es sich bei ihnen um harmlose ältere Damen, die auf Katzen stehen und auf Wollknäuel und die einem Plauderstündchen oder drei nicht abgeneigt sind. Auf den zweiten Blick erinnern diese schlüsselschwingenden Ausgeburten der Hölle aber stark an Stasi- oder KGB-Mitarbeiterinnen, sind überflüssig wie ein Kropf und warten nur darauf, eines Tages von einem paranoiden Studenten einen Haarschnitt à la Sweeney Todd verpasst zu bekommen.


Olga ist im fünften Stock die Ausnahme-Deschurnaja. Sie ist keinen Tag älter als dreißig und hat bereits beschlossen, ihr Leben dem Studentenheim und seinen besonderen Vorkommnissen zu widmen. Wenn auf dem Gang gelärmt oder in der Küche ein Wasserhahn aufgedreht wird, kann man sicher sein, dass sich drei Sekunden später vorsichtig ihr niedliches Köpfchen um die Ecke schiebt. Dieses niedliche Köpfchen mit einem niedlichen Tässchen Wasser zu begießen, ist eine Versuchung, der es zu widerstehen gilt.


Mein Ärger richtet sich dabei weniger gegen einzelne unfreundliche oder dummdreiste Deschurnajas, als vielmehr gegen die Angewohnheit von Deschurnajas und Universitätsangestellten, sinnlose Regeln durchzusetzen und im Privatleben ihrer Studenten zu schnüffeln. Besonders widerwärtige Individuen schaffen es sogar, auf persönliche, wenn auch uni-bezogene, Entscheidungen ihrer Studenten Einfluss zu nehmen. In diesem Zusammenhang sei eine 64-jährige Mitarbeiterin der Linguistischen Uni genannt, die Lera aus Ischewsk, als diese bereits einen Vertrag unterschrieben hatte, verbat, nach ihrem zweiten Studienjahr auf Au-Pair in die Schweiz zu fahren. Hätte Lera ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt, hätte sie auf Initiative dieser Angestellten hin ihren kostenlosen Studienplatz verloren. Die Chance auf ein Uni-organisiertes Praktikum in Deutschland hat sie unabhängig von ihrer Entscheidung ebenfalls beinahe verwirkt, da man jemandem, der solche Pläne schmiede, „nicht vertrauen könne“.


Dahinter steckt der sogenannte Deschurnaja-Komplex, ein in Russland sehr ausgeprägtes soziales Phänomen: Menschen, die Macht besitzen, und zwar in den allermeisten Fällen sehr wenig Macht (beispielsweise sind dies Sekretärinnen, Schalterbeamte und Ladenangestellte), demonstrieren diese Macht und schöpfen ihre Möglichkeiten, den auf sie angewiesenen Leuten das Leben schwer zu machen, voll aus.


Die mit Abstand widerlichste Deschurnaja (Die kann vier Stunden am Stück reden, ganz egal, ob ihr jemand zuhört oder nicht) hat sich letztens Zutritt zu meinem Zimmer verschafft, weil sie meinte, auf meinem Schreibtisch etwas Verbotenes erlinst zu haben. Sie ist etwas kurzsichtig und hielt meinen Petersburg-Reiseführer, auf dessen Umschlag die (nackte) Samson-Statue von Peterhof abgebildet ist, für ein Pornomagazin.


Ebenfalls Zutritt verschaffte sich, als ich an einem faulen Nachmittag gerade einer Siesta nachging, ein besoffener Handwerker. Er habe den Befehl, meine hübsche Lampe gegen eine Neonröhre auszutauschen, zwar nicht heute, aber man könne sich die Sache ja einmal anschauen... Er fragte mich nach meiner Herkunft, hielt mir einen kurzen Vortrag über Hitler, entdeckte, dass von den drei Glühbirnen des kleinen Lusters eine kaputt war und nahm dies zum Anlass, mit einem Schraubenzieher in der Lampenfassung herumzubohren. Das führte zu einer kleinen Explosion, was ihn nicht störte, was zu einer größeren Explosion führte. Der Schraubenzieher wirkte irgendwie unförmig, als er ihn verdutzt aus dem Lampeninneren herauszog. Der Handwerker empfahl mir, mich von dieser gefährlichen Lampe fernzuhalten und verschwand dann endlich, irgendwelche anderen Heimbewohner nerven.


Angetrunkene Handwerker und andere lustige Gestalten trüben mein Dasein nicht, aber die Deschurnajas betrachte ich mittlerweile in einem anderen Licht als früher. Die werten Damen verstehen es, mit sinnlosen Regeln, endlosem Getratsche und übermäßiger Neugier die Freiheit der ihnen ausgelieferten Heimbewohner einzuschränken (Na gut, es gibt auch vereinzelte ganz liebe Deschurnajas, brauchen tu ich sie deshalb aber noch lange nicht).


Als Mitteleuropäer fühle ich mich eingeengt und beschwere mich, wenn ich den Eindruck habe, dass mir jemand zuhört. Die Russen sehen die Sache sehr gelassen, wie sie prinzipiell alles ruhig über sich ergehen lassen.


Am besten beschreibt diese beinahe absolute, unter Stalin anerzogene (und damals nachvollziehbare) Tatenlosigkeit meiner Meinung nach ein Satz aus der Autobiographie von Lilianna Lungina: „So sehr träumten wir all diese Jahre davon, dass dieser Krieg irgendwann ein Ende finden würde – wie alles irgendwann ein Ende findet“. Lungina war eine sehr couragierte Frau und die Umstände waren ganz andere, aber der Spruch lässt sich auf die Gegenwart umlegen. Weil die Russen nie den Mund aufmachen, vor allen machtgeilen Kleingeistern kuschen und sich mit jedem noch so sinnlosen Status quo zufrieden geben, wird sich in diesem Land auch nicht so schnell irgendwas ändern.



Die weiteren Aussichten


Aktuell herrscht in Nischni Tauwetter, der Frühling ist nicht mehr weit. Fünf Monate saukalt sind auch irgendwie genug, find ich! Am letzten richtig schönen Wintertag Ende März waren Zoryana und ich in Gorochowez, einer Kleinstadt in der Oblast, Schi fahren. Von den Leihschi über das Kartensystem und den alten Tellerlift ist dort alles österreichisch, ansonsten will ich nur anmerken, dass ich die Leute bewundere, die in der russischen Pampa ein Schigebiet aufziehen – rentabel ist dieses Projekt wohl nur annähernd, und dass ein insolventes Schigebiet so mir nichts, dir nichts vom Land übernommen wird wie in Österreich, kann ich mir in Russland schwer vorstellen.


Dass diese Zeilen so lange auf sich warten lassen haben, liegt unter anderem daran, dass mein Laptop im siebten Dienstjahr nach kurzem, aber grausamem Leiden entschlafen ist, und dass mit der Lieferung des Netbooks, dessen Besitzer ich nunmehr bin, nicht alles so funktioniert hat, wie es funktionieren hätte sollen. Dafür dürft ihr auf den nächsten Bericht gespannt sein, da nehme ich euch mit auf einen Ausflug in die Steinzeit. =)