Russland unzensiert V

Wintersport


Zwei von meinen Jänner-Highlights waren Rodeln und ein Bad in der Wolga. Rodeln kann man in Nischni unter anderem an der Nábereschnaja Fedorówskawa, einem Ort, der nachts beleuchtet wird und nicht weit vom Oka-Ufer entfernt ist. Dort mündet eine große Grube in einen Canyon, von mittelsteil bis beinahe senkrecht ist abhangmäßig alles dabei. Großartig war es, ein paar Leuten zuzusehen, die mit einer Sonderkonstruktion angestampft kamen – es handelte sich um eine große, mit einer Plastikplane umwickelte Doppelmatratze, an der Gurte befestigt waren. Das Ding schien jeder Schwerkraft zu trotzen, raste über das Ende der gegenüberliegenden Grubenwand hinweg und dann im Canyon hinauf und hinunter. Manövrierfähig war das Ding nicht, dafür aber sehr schnell und wuchtig, und irgendwie schafften es immer alle, der rasenden Matratze auszuweichen. Liebe österreichische Pistenanrainer – nächsten Winter haben wir ein Projekt!


Dem alten Kalender gemäß feiern die Orthodoxen am 19. Jänner die Taufe Jesu im Jordan, und zwar traditionell mit einem Eisbad. Im heutigen Russland treibt nicht nur der Glaube, sondern vor allem auch die Abenteuerlust zahlreiche Russen ins Wasser (Neben dem Glauben blüht in der Zeit zwischen Weihnachten und kreschénie (Dreikönig) vor allem der Aberglauben, zumindest in russischen Dörfern. Wenn man den Erzählungen Glauben schenken darf, führen russische Dorfmädchen in dieser Zeit auch heute noch verschiedene Rituale durch, die darauf abzielen, einen Mann zu finden. Einige davon können in Ausnahmefällen tödlich enden, andere sind eher lustig – beispielsweise werfen die Mädchen auf der Straße einen Stiefel, und der Mann, der getroffen wird, ist der Auserwählte). Tradition ist Tradition, ein Eisbad muss sein, so oder so. Lera aus Ischewsk und ich hatten beschlossen, uns den verrückten Eisbadenden anzuschließen.


Die Badesaison ist bereits um Mitternacht offiziell eröffnet, allerdings steht man um diese Uhrzeit stundenlang an, und außerdem waren wir uns erst relativ spät darüber einig geworden, dass tatsächlich am 19. Jänner gebadet wird und nicht einen Tag früher oder später. Wir standen also erst um 21 Uhr am Grebnój Kanal, einem kleinen Seitenarm der Wolga. Die Stadtverwaltung hatte dort, wie auch an einigen anderen Stellen in der Stadt, zwei große Löcher ins 50 cm dicke Eis gehackt, in selbige jeweils einen Holzkorb versenkt und sogar noch Stege und Leitern montiert. Lera bemerkte noch erleichtert, dass es „heute zum Glück nicht kalt“ sei (Lufttemperatur war –15°) und dann tauchten wir, wie es die Tradition verlangt, dreimal unter. Das Wolgawasser ist im Jänner ... kalt. Richtig gemein kalt, um genau zu sein, nicht einmal Luft holen kann man, wenn man bis zum Hals drinnen steht. Sobald man sich blitzschnell angezogen hat, breitet sich dafür eine richtig wohlige Wärme aus im Körper und dieses angenehme Gefühl hält relativ lange an. Trotzdem – einmal ist genug.

 


Wenn man nur „Bahnhof“ versteht


Mit Zoryana war ich eine knappe Woche lang in der erstaunlichsten Stadt Russlands, in Sankt Petersburg. Aber alles schön chronologisch.


Eine Reise beginnt in Russland, was mir sehr gefällt, meistens am Bahnhof. So ein russischer Bahnhof ist ein wunderliches Objekt. Der Eingang wird meistens sofort oder nach kurzem Suchen gefunden, im nächsten Schritt geht es durch einen Metalldetektor. Dieser piepst bei jedem, der ihn passiert, was jedoch niemanden stört. Ich habe noch nie gesehen, dass einer der umstehenden ochrániks (unsägliche, weil allgegenwärtige russische Wachbeamte) irgendjemandes Gepäck inspiziert hätte. Alsdann beginnt die Suche nach dem Zugang zu den Bahnsteigen, diese gestaltet sich mitunter bedeutend schwieriger als die Suche nach dem Eingang. Das kann eine kleine Stiege in irgendeiner Ecke sein, die einzige von einem Dutzend kleiner, identischer Türen, die nicht abgesperrt ist, oder ein Aufgang auf den Dachboden. In Nischni befindet sich der Abgang zu den Bahnsteigen in der Haupthalle, was keine Selbstverständlichkeit ist. Weiter geht es im Untergrund durch einen ganzen Komplex an Personenschleusen, der mit Fahrkarten für Fernzüge jedoch nicht passiert werden kann. Man muss also auf eine kleine Metalltür abseits der Schleusen ausweichen, die offensteht und durch die jeder ohne Kontrolle durchgehen kann. Der werte Leser hat bereits verstanden – die Schleusen sind genauso sinnfrei wie die Metalldetektoren beim Eingang.


Wer online ein Ticket gekauft hat – für Anfänger, und zwar auch für russische, eine Leidensgeschichte für sich – und im Internet auf den „Registrieren“-Button gedrückt hat, erspart sich am Bahnhof das Umtauschen des Onlinebillets in eine Fahrkarte, jedenfalls hat das bisher immer funktioniert bei mir. Die Liegewagenschaffnerin tischte uns diesmal jedoch eine Geschichte auf, wonach es trotz Online-Registrierung nicht möglich wäre, ohne die schöne Karte aus orangefarbenem Karton in ihren Liegewagen einzusteigen, und schenkte meinem Protest kein Gehör. Wenn Zug Nummer 347 Ufá-Petersburg (mit Kurswagen aus allen Ecken Europäisch-Südost-Russlands) in Nischni nicht einen ungewöhnlich langen Aufenthalt hätte, hätten wir es nicht mehr geschafft, die Tickets umzutauschen. Die prowodníza hätte uns jedenfalls eiskalt stehen lassen.


Ein Kuriosum ist übrigens auch der Witebskij-Bahnhof in Sankt Petersburg, wo es zwei Kassenhallen gibt, in denen unterschiedliche Tickets verkauft werden (einmal Vorverkauf und einmal Tageskarten, wenn ich das richtig verstanden habe), nicht jedoch Tickets für spontane, einfache Fahrten mit Regionalzügen. Diese gibt es nur an einem versteckten, schäbigen Kiosk am Bahnsteig. Mütterchen Russland treibt die Russen und seine Besucher mit solchen und ähnlichen Spielchen gerne zur Verzweiflung, jeden Tag und an jedem Ort. Daran muss man sich gewöhnen.

 


Sankt Petersburg


"Piter", wie Russlands kulturelle Hauptstadt genannt wird, sei „zu schön für eine russische Stadt“, das sagen alle, die dort waren, und dem kann ich mich anschließen. Ich habe noch niemanden schlecht über die Fünf-Millionen-Stadt am 60. Breitengrad reden hören, aber dass die Stadt im Newa-Delta so dermaßen schön ist, hätte ich dann doch nicht gedacht. Bei Sankt Petersburg handelt es sich um eine gelungene Mischung aus Kanälen, Newa-Armen, Uferstraßen, Kathedralen, Prunkbauten und schönen Häusern. Für mich von großem Interesse sind auch die tollen U-Bahn-Stationen, bis zu 86 Meter unter der Erde gelegen und häufig wahre Augenweiden (Ich geb den Wienern recht, mit dem Geld, das man in eine schöne U-Bahn-Station stecken würde, kann man drei herkömmliche Stationen bauen, aber Ästhetik ist halt schon auch ein Wert...). Was die Dichte an Prachtbauten und Palästen betrifft, gibt es weltweit nur noch eine Stadt, die da mithalten kann, nämlich Venedig. Wobei die Bausubstanz in Venedig nicht annähernd so gut in Schuss ist wie die in Sankt Petersburg.


Das wohl bekannteste Bauwerk in Petersburg ist die Ermitage, eines der größten und wahrscheinlich das schönste Kunstmuseum der Welt. Da gibt es 350 Säle, einer größer und schöner als der andere, und nach ein paar Stunden voll mit Bildern, Marmorvasen und ägyptischen Mumien fängt alles an, sich um einen zu drehen... Der Ausgang ist nicht so leicht zu finden, der Eintritt ist für Studenten, auch für ausländische, gratis.


Weiters haben wir das Russische Museum besucht, das Zoologische, das Eisenbahnmuseum und das Museum für Arktis und Antarktis. Nachhaltig beeindruckt haben mich in letzterem unter anderem die Bilder von der Rettungsaktion der "Tscheljuskin", einem sowjetischen Schiff, das im Jahr 1933 in der Beringstraße vom Eis zermalmt worden war. Auf den Bildern ist zu sehen, wie die Passagiere von der Eisscholle, auf die sie sich geflüchtet hatten, geborgen wurden – in Stoffsäcken, die unter die Tragflächen eines Kleinflugzeugs geschnallt wurden, jeweils zwei pro Flügel.


Allerhand Kirchen und Metro-Stationen haben wir besichtigt, die Stadt Puschkin, wo der Katharinenpalast steht, und Schlüsselburg am Ladogasee.


Nach Schlüsselburg fährt man von Petersburg um einen Euro fünfzig mit dem Autobus, aber das war uns zu einfach. Wir erreichten den See per Regionalzug, allerdings am falschen Newa-Ufer, nach einer Internetrecherche wohl wissend, dass es hier keine Brücke über die Newa gibt und dass die Strömung  an diesem Ort so stark ist, dass der Fluss nicht zufriert. Ich war davon ausgegangen, dass man einfach einen großen Halbkreis über das Eis machen könne, während der Leningrader Blockade waren schließlich ganz andere Sachen über den zugefrorenen größten See Europas geschafft worden... Einen Strich durch die Rechnung machte uns dann eine nur wenige Meter breite Schneise – irgendein Mistkerl hatte seinen Eisbrecher, aus dem Newa-Ursprung ausfahrend, weit hinaus in den Ladogasee gelenkt. Wir begnügten uns also damit, ein bisschen über das Eis zu spazieren und erreichten das nicht allzu berauschende Schlüsselburg dann per Taxi.


Zurück in Petersburg verirrten wir uns auf dem Weg in die Peter-und-Paul-Festung in ein Café, das so fein war, dass für Zoryanas Handtasche ein eigenes Polstermöbel gebracht wurde. Für neun Euro bekamen wir vier klitzekleine Teigtaschen in einem Rindenkörbchen. Die Atmosphäre war entsprechend spießig und unangenehm, dafür entdeckte ich, als mich die Neugier auf die Toilette trieb, ein weiteres Kuriosum – in dem kerzenbeschienenen Raum wartete nicht etwa weißes oder gelbes oder rosafarbenes Klopapier auf die Gäste, sondern schwarzes! Mit Mustern.


Für den letzten Abend hatten wir im Internet die Adresse eines österreichischen Restaurants ausgegraben. Das Restaurant hatte jedoch in der Zwischenzeit zugesperrt (auweh), und der Betreiber des Nachfolgerestaurants verneinte meine Frage, ob man hier noch was Österreichisches bekommen könne. Bis wir mit dem Essen fertig waren, hatte er sich allerdings was überlegt und bewirtete uns mit einem Apfelstrudel. Sein treuherziges Gesicht, als er sich anschließend nach der Authentizität des Apfelstrudels erkundigte, war tausend Euro wert und es blieb mir gar nichts anderes übrig, als seinen Strudel zu loben, der zwar ganz anders schmeckte als daheim, aber auf jeden Fall auch nicht zu verachten war.


Unser Hostel war im absoluten Zentrum von Petersburg, bedingt durch die Jahreszeit recht günstig und zudem wirklich schön und gemütlich. Das Wetter war mit Temperaturen, die nur knapp unter dem Gefrierpunkt lagen, ausgesprochen unrussisch, von den jährlich nur rund 60 Sonnentagen in Sankt Petersburg durften wir anderthalb erleben, und die Landschaft vor dem Zugfenster war ein einzigartiges Wintermärchen. Sankt Petersburg sieht mich wieder.