Russland unzensiert III

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Mit Anfang November gab ich meine Ausländerbastion im siebten Stock auf und übersiedelte ins fünfte Stockwerk, über das ich mir bis dato gerne den Mund zerrissen habe. Ich bewohne hier nun ein adrettes kleines Zimmer, das ich vorläufig mit niemandem teilen muss. Ich bin froh, zwei Monate lang im siebten Stock gewohnt zu haben (Die Leute, die ich dort kennengelernt habe, sind nicht aus der Welt). Ich brauche aber einen Ort, an dem ich in Ruhe lernen und schlafen kann und – noch wichtiger – ein sauberes, ruhiges Zimmer, in dem ich mit allerhand Leuten Tee trinken, mit Lera (Kasachstan) übersetzen und mit Zoryana Filme anschauen kann. Die Gesprächsthemen mit Artjom und Denís waren endenwollend, und nachdem ich in Nischni wirklich viele Leute kenne, die ich auch gerne ab und zu einlade, ist das ausländerdominierte und zur Hälfte unbewohnte fünfte Stockwerk, so absurd das klingt, meinem (unbedingt!) russischsprachigen Sozialleben nun nicht abträglich, sondern fördert dieses sogar.


Mit Russisch geht es so la la. Einerseits ist der Fortschritt, den ich seit September gemacht habe, spürbar, ich lese russische Bücher ohne größere Schwierigkeiten und beherrsche einige tausend Vokabel. Andererseits klingt mein Russisch nach wie vor nicht so, wie es klingen soll, und es gibt einige zehntausend Vokabel, die ich noch nicht beherrsche.


Am österreichischen Nationalfeiertag gab es in Nischni das erste Schneegestöber, und einen Monat später brach mit Eisschauern und Schnee endgültig der Winter über uns herein. Gleichzeitig kam es zu einem weitgehenden Zusammenbrechen des (ohnehin nur bedingt funktionierenden) öffentlichen Verkehrs. Auf dem Weg in den Sawjetskij rajon (Sowjetischen Bezirk) zu Lera und Sweta wartete ich bei arktischen Temperaturen einmal volle 40 Minuten auf meinen Autobus. Statt den Autobussen und Marschrutkas drehte an der Haltestelle ein Fernsehteam seine Runden und interviewte die Wartenden. Wie lange sie schon auf ihren Bus warteten und ob ihnen kalt sei... Und Ihnen?


An einem Freitagnachmittag besuchte ich Mascha im Infektionskrankenhaus Nummer zwei, sie lag dort (und liegt dort leider noch immer) wegen dauerhaft überhöhter Temperatur (und ohne jemals eine Diagnose zu bekommen). Als ich Block Nummer vier gefunden hatte, war ich zunächst etwas verwirrt, denn anstelle eines Eingangs verteilten sich über die Vorderfront des Gebäudes vier rostige Feuertüren. Bei einer stand in verblichenen Lettern „Eingang“, und dort versuchte ich mein Glück.


Hinter der Tür war nichts, keine Rezeption, kein Schild, kein Korridor. Nur ein enges, verstaubtes Stiegenhaus ohne Menschen, in dem offenbar gerade ausgemalt wurde. Ich zwängte mich an einem Baugerüst vorbei in den zweiten Stock, wo sich in der Wand eine weitere rostige Feuertür befand, immer noch in der Überzeugung, hier in einem unbewohnten Gebäude gelandet zu sein.


Hinter der Tür, die quietschend aufging, fand sich aber tatsächlich so etwas wie ein Krankenhaus, ein Gang, in dem eine unfreundliche ältere Dame an einem Schreibtisch saß. Und alsbald kam mir eine käseweiße, aber gut gelaunte Mascha entgegengeflogen. Unterhalten mussten wir uns zwischen der rostigen Feuertüre und der Glastür zum Krankenflügel, wo sich neben allerhand altem Zeug genau ein Holzsessel befand, der jedoch für Untersuchungen vorgesehen war.

 


Von Omas und anderen Leuten


Über die russischen Mädels, die man in der Tat nicht genug loben und preisen kann, ist schon viel geschrieben worden, darum widme ich die folgenden Zeilen den russischen Großmüttern, beziehungsweise den Orten, an denen mir dieselben über den Weg laufen.


Die russischen bábuschki unterscheiden sich von den österreichischen. Unter anderem dadurch, dass sie viel deutlicher in der Überzahl sind, denn der jeweilige Opa (russisch: djéduschka) befindet sich in der Regel nicht mehr unter den Lebenden. In keinem anderen Land der Welt gibt es in der älteren Generation einen größeren Frauenüberschuss als in Russland.


Auf der Straße, im Geschäft, am Markt und an der Bushaltestelle sind sie überall anzutreffen, klein, dick, mit einem hässlichen Mantel in einer trostlosen Farbe.


Gegenwärtig, wie Sonja treffend bemerkte, haben die meisten russischen Frauen, sofern sie den Mühen des Alltags nicht auf irgendeine Art und Weise ausgewichen sind, spätestens mit 50 eine Art Einheitsgesicht (oder setzen ein solches sehr gekonnt auf, sobald sie ihre Wohnung verlassen). Es ist ein vergrämtes, ausdrucksloses, abgehärtetes, oft sehr unfreundliches Gesicht. Die jüngsten dieser bábuschki, zwischen 50 und 60, stellen einen Großteil der Straßenbahnschaffnerinnen. Sie sind zumeist klein und sehr dick, sitzen in blauem Kittel und mit einer großen Ticketrolle in der Hand auf ihrem Sitzplatz, und sobald die Tram losrumpelt, schlurfen sie durch den Waggon und verkaufen dir um 16 Rubel einen Fahrschein.


Eine eigene Kategorie bilden die Äpfel oder Wollsocken verkaufenden bábuschki. Sie sind, und mit Verlaub generalisiere ich noch einmal, etwas weniger dick, mindestens zehn Jahre älter als die Straßenbahn-bábuschki, sitzen bei Kälte und Regen an der Straße und verkaufen süße (in Sibirien winzig kleine) Äpfel oder dicke Socken, letztere häufig aus der Sockenfabrik zu Tambow. Im Gegensatz zu ihren fahrkartenverkaufenden Kolleginnen sind sie oft ausgesprochen freundlich und mitteilsam.


Und schließlich gibt es die herzensguten, redebedürftigen, großzügigen, mit einem Wort – anbetungswürdigen bábuschki. Diese trifft man auf der ganzen Welt, in Russland begegne ich ihnen  mitunter in unserem Studentenheim (wo sie Türen auf- und zusperren, Waschmaschinen in Betrieb nehmen, putzen und telefonieren), in Zügen und bisweilen, wenn ich irgendwo zu Gast bin.


Abgesehen von den Omas laufen einem in Russland beinahe an jeder Straßenecke interessante Individuen über den Weg. Da ist der Typ, der vor dem Kindertheater, während drinnen eine Vorstellung von „Aladdins Wunderlampe“ beginnt, mit einem Baseballschläger ein Auto demoliert. Da ist der kleine, dicke Kerl, der sich mir um halb zwölf Uhr abends auf einer dunklen Straße als Drogendealer und Eisenbahnen-mit-Graffiti-Vollsprüher (Du Schwein!) vorstellt und mir rät, niemals mit Rauschgift zu experimentieren. Der seine Universitätsausbildung verflucht und meint, dass er ein Dreifachstudium benötigen würde, um in diesem Land auch nur als Kellner arbeiten zu dürfen. Mein Rugby und Paintball spielender Freund Pascha (Zuletzt waren wir klettern und haben uns einen Boxkampf angeschaut), der überzeugt davon ist, deshalb nicht eingezogen worden zu sein, weil er zum – brutalen – russischen Heer wollte. Er meint, es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, sich dem Sport zu widmen. Da ist der Musiker, der bei Minusgraden um elf Uhr abends in der menschenleeren Fußgängerzone Saxophon spielt. Eine Schneearbeiterin, die um halb zwölf Uhr abends einem betagten männlichen Kollegen anrät, weniger Schnee auf seine Schaufel zu nehmen. Die etwa 40-jährige Frau, die (um halb zwölf Uhr abends) in einem kleinen Grünstreifen zwischen einigen Wohnblocks mit einer Schaufel ein Loch gräbt. Die vielleicht selbe Frau, die einige Tage später um dieselbe Zeit an derselben Stelle steht und ein Foto von einem Kanaldeckel schießt. Die zwei älteren Herren, die wir nach Einbruch der Dunkelheit im Awtosawodskij-Bezirk in einem Park treffen. Ihr gepflegtes Äußeres lässt Zoryana vermuten, dass dies die einzigen gesitteten Menschen in dieser finsteren Ecke von Nischni Nowgorod sind. In dem Moment, als wir an ihnen vorbeigehen, beginnt der eine von ihnen besonders derb zu fluchen...


Da sind einige Altersgenossen männlichen Geschlechts, die glauben, ein Recht darauf zu haben, wegen irgendeiner Nichtigkeit angepisst zu sein und – was ich lächerlich finde – diese Anfälle von „Ich hab schlechte Laune und ich bin der Allerwichtigste“ geradezu zu zelebrieren, mit dem Ziel, sich von allen weiblichen Wesen im Umkreis von zwanzig Metern besänftigen zu lassen.


Und schließlich ist da das russische Volk als solches, das man mit tausend Adjektiven beschreiben kann, zum Beispiel mit „rätselhaft“, „kreativ“ und „kultiviert“. In der Wiener U-Bahn lesen die Leute die „Heute“, eine Klopapierzeitung. In der Moskauer U-Bahn lesen die Leute Romane.