Russland unzensiert II

„Drehts die Heizung auf und machts die Tür zu ... bitte!“ Solche Sprüche sind dazu da, meine russischen Freunde zum Lachen zu bringen, wenn wir um halb sechs Uhr morgens die „Rok-Bar“ verlassen und einen weiten Nachhauseweg haben. Denn auch sie frieren bei Temperaturen um die null Grad, einerseits deshalb, weil die Mädels auf kurze Röcke auch bei unter null Grad nicht verzichten wollen (auf Mäntel schon) und andererseits, weil die relative Luftfeuchte dank Wolga und ständigen Regens häufig bei rund 90 % liegt und gleichzeitig ein bitterböser Wind weht.


Die Russen sind möglicherweise das letzte Volk, das gerne zu Fuß geht. Wenn sich die Stadt werktags um 17 Uhr in einen gewaltigen Stau verwandelt oder das Kommen der nächsten Straßenbahn am Wochenende ungewiss ist, sind Wege von einigen Kilometern zu Fuß am schnellsten zurückzulegen, das finanzielle Argument (Eine Marschrutka-Fahrt kostet mittlerweile 20 Rubel, Zeitkarten gibt es in Nischni nur für Busse) spielt ebenfalls eine Rolle, Tatsache ist aber, dass die Russen nicht nur oft, sondern vor allem auch sehr gerne zu Fuß gehen, stundenlang und aus Freude an der Sache. Sie haben eine andere Vorstellung von Distanzen, wenn man mit Russen an einem Sommerabend durch die Stadt bummelt, legt man dabei gut und gerne 10 Kilometer zurück. Wenn man am Land ist und zusätzlich ein kleiner Waldspaziergang ansteht, sind es an einem Tag ohne weiteres 20.


Als wir in Ischewsk nach einem Cafébesuch vor der Wahl standen, per Bus oder zu Fuß heimzukehren, entschieden wir uns für letztere Variante, denn laut Lera war es „nicht weit“. Genau 90 Minuten später waren wir zuhause. Ebenso in Moskau, wo Lukas und ich im vorigen Jahr von Anna und Wowa (Wladimir) gefragt wurden, ob wir eine U-Bahn-Station nicht lieber zu Fuß gehen wollten, es sei „nur ein kleines Stück“. Gehzeit: Ebenfalls rund eineinhalb Stunden. Sweta (Swetlana) schwört, dass sie die 40 Minuten zur Universität jeden Tag zu Fuß zurücklegen würde, wenn sie nur etwas mehr Zeit hätte (Sie arbeitet als Volksschullehrerin und hat zeitgleich bis zu drei Studien betrieben. Ihrer Schulklasse hab ich letztens von meiner Reise nach Costa Rica erzählt, was die Zehnjährigen ziemlich fasziniert hat. Dem Vortrag folgten eine Foto-Session und eine Autogramm-Stunde).


Was ist nun eine Marschrutka? Die Definition ist zwischen Lemberg und Wladiwostok nicht immer dieselbe, in den größeren Städten handelt es sich aber zumeist um eine schier endlose Flotte von uralten Minibussen. Sie verfügen über etwa 20 Sitzplätze, anderthalb Mal so viele Stehplätze und bisweilen auch über einen Schaffner. Die Bezahlung des Fahrpreises sieht folgendermaßen aus: Jemand, der hinter dir steht oder sitzt, stupst dich an, drückt dir 20 Rubel in die Hand, die du auf dieselbe Weise weiterreichst, bis das Geld schließlich vorne beim Fahrer landet. Dieser zählt nach, sucht gegebenenfalls nach Wechselgeld und reißt dann, während er im aggressiven russischen Verkehrschaos sein Glück versucht, ein Ticket von seiner Ticketrolle, welches denselben Weg zurücknimmt. Wenn die ersten drei Ziffern der sechsstelligen Ticketnummer dieselbe Summe ergeben wie die letzten drei, bringt das Ticket Glück und sollte aufgegessen werden, wobei ich das bei den – relativ abergläubischen – Russen noch nie beobachtet habe.


Anfang Oktober waren Sonja und ich drei Tage bei Lera in Ischewsk, sie hatte uns zu sich nachhause eingeladen. Ischewsk (630.000 Einwohner) ist die Hauptstadt Udmurtiens, 14 Zugstunden von Nischni entfernt und wirkt im Vergleich zu Nischni ziemlich ausgestorben. Das Zentrum der russischen Rüstungsindustrie besteht hauptsächlich aus Plattenbauten und den Kalaschnikow-Werken (Das Sturmgewehr AK-47 ist die meistproduzierte Handfeuerwaffe weltweit).


Lera wohnt dort mit ihren Eltern. Ihr fröhlicher, sehr interessierter Vater war zunächst Psychiater, arbeitet aber nun, weil Ärzte in Russland neben den Lehrern zur untersten Einkommensschicht gehören, bei einer privaten Sicherheitsfirma. Wir haben also die Stadt Ischewsk unter die Lupe genommen, und ebenso die Siedlung Jakschur-Boda, wo eine von Leras Großmüttern lebt. Jakschur-Boda hat mehr als 8.000 Einwohner, gilt jedoch als Dorf und sieht auch so aus. Die Menschen wohnen großteils in kleinen Holzhäusern, im Garten befindet sich die unvermeidliche banja (Sauna). Das Haus von Leras Oma ist ausgesprochen urig und auf eine lustige Art und Weise zusammengeflickt. Unter der Küche befindet sich der traditionelle podpolje, ein kleiner Kellerraum, der als Speisekammer dient. Leras Großmutter, die früher als Rettungssanitäterin gearbeitet hatte, erzählte uns, dass sie im Zusammenhang mit diesen Kellerverliesen zahlreiche Einsätze absolvieren musste, weil die russischen Omas (in Russland wie in Österreich als bábuschki, Einzahl bábuschka, bekannt) gerne vergessen, den Deckel über das Kellerloch zu legen, woraufhin sich dieses in eine lebensgefährliche Fallgrube verwandelt.


Im Zug zurück nach Nischni reiste mit uns ein etwa gleichaltriges Mädchen, das irgendwie angefressen aussah. Wir überlegten, sie auf eine Tasse Tee einzuladen, entschieden uns ob der abweisenden Miene dann aber doch dagegen und sprachen sie nicht an. Drei Wochen später gab Lera (Eine andere Lera, sie kommt ursprünglich aus Sewerodwinsk und ich werde sie, um Verwechslungen zu vermeiden, ab sofort Eismeer-Lera nennen) eine Party, und in ihrer Küche saß ein Mädchen, das mir irgendwie bekannt vorkam... Es war das Mädel aus dem Zug. Sie heißt Ira (Irina) und ist überhaupt nicht angefressen, sondern ein feiner, sehr humorvoller Mensch.


Lera (Eismeer) wohnt in einer Nachbarschaft, in der es aussieht wie in den meisten anderen russischen Nachbarschaften auch: Von der Hauptstraße kommend umrundet man einen riesigen Plattenbau, um sich dann unversehens in einem Meer geringfügig kleinerer Plattenbauten wiederzufinden. Man geht zwischen diesen absolut identischen Plattenbauten durch, hinter denen weitere Plattenbauten auftauchen, und hat spätestens in dem Moment, in dem man hinter letzteren Plattenbauten weitere gleichartige Plattenbauten entdeckt, endgültig die Orientierung verloren. Egal, wen man in einer solchen Nachbarschaft nach einer bestimmten Hausnummer fragt, die Antwort ist immer dieselbe: „Das ist hier irgendwo in der Nähe. Keine Ahnung.“


Hat man dann durch Zufall den richtigen Bau identifiziert, tippt man am domafón einen Code ein, geht durch ein altes Stiegenhaus nach oben und findet hinter einer doppelten Haustüre eine kleine, aber in den allermeisten Fällen sehr gemütlich eingerichtete Wohnung. Chruschtschow, dieser Anti-Ästhet, beschränkte sein Volk auf durchschnittlich etwa 45 m², neben einem kleinen Badezimmer und einer sehr kleinen Küche gibt es ein Wohnzimmer und zwei kleine Schlafräume (in Moskau tendenziell einen). Temperaturregler bei der Heizung sind nicht vorgesehen, weder in der Wohnung, noch im Keller, noch sonst irgendwo. Die Innentemperatur wird von Oktober bis April bezirksweise zentral festgelegt, und zwar häufig mit gefühlten 25 bis 27 Grad Celsius, sodass die Russen auch beim grimmigsten Frost gezwungen sind, die Fenster aufzumachen oder zu kippen. Meine Zimmergenossen laufen seit Mitte Oktober zeitweise in Badehose herum.


Eine billige Wohnung ist in Nischni Nowgorod inklusive Nebenkosten ab etwa 300-350 Euro im Monat zu haben. Das durchschnittliche Monatsgehalt liegt bei 570 Euro. Die Lehrer meiner russischen Universität verdienen – ohne Zulagen – 170 Euro im Monat, davon können sie, sofern sie nicht verheiratet sind, häufig nur ein Zimmer im Studentenheim finanzieren. Die Lebensmittelpreise in Russland entsprechen ungefähr den österreichischen. Fürs Studieren werden Gebühren fällig (An der Linguistischen Uni sind das zwischen 2.000 und 2.700 Euro im Jahr, gratis studieren die jeweils Besten eines Jahrgangs). Ab Herbst 2013 wird in Russland voraussichtlich auch die Volksschule kostenpflichtig, Volksschüler aus Familien, die sich das nicht leisten können, werden dann nur mehr einige wenige Stunden pro Woche in die Schule gehen.


Russische Studenten studieren in den meisten Fällen sehr verbissen und schlafen wenig (Meine Zimmerkollegen sind da Ausnahmen, die tun absolut nichts für die Uni und Artjom schläft gerne seine zwölf Stunden pro Tag – ein Jahr hat er bereits wiederholt).


Was mich betrifft, habe ich etwa zwölf Stunden Sprachkurs pro Woche, und endlich auch eine Stunde Phonetik! Für russische Fremdsprachen-Studierende ist es selbstverständlich, einige Semesterstunden lang mit einem mitgebrachten Spiegel in der Bank zu sitzen und Zungenübungen zu machen, bis die Aussprache sitzt. Ein unglaubliches Versäumnis der österreichischen Theorie-Fetischisten ist es, den Bereich der praktischen Phonetik in Sprachkursen an Universitäten und anderswo weitgehend zu ignorieren! Mein Akzent im Russischen ist heftig und vor allem viel stärker, als er sein müsste. Außerhalb der Uni übe ich meine Aussprache nun auch im Sprach-Tandem mit Lera (Eine andere Lera, sie kommt ursprünglich aus Kasachstan und nein, in Russland heißen nicht alle Frauen gleich) und Zoryana.


Vom Sprachkurs abgesehen besuche ich relativ wenige Vorlesungen und lerne lieber selber vor mich hin. Dafür spiele ich zweimal die Woche Badminton. Mein Sprachkurs an der Linguistischen Uni von Nischni ist besser als die Sprachkurse, die ich an der Uni Wien belegt habe. Auf die gesamte Uni bezogen würde ich behaupten, dass die Qualität der Lehre nicht besser und nicht schlechter ist als daheim. Sehr gute und weniger gute Lehrer gibt es überall.


Was das Studentenheim betrifft, will ich anmerken, dass Artjom ein sehr angenehmer Zimmerkollege ist und Denís zwar gutherzig, aber für mich etwas anstrengend. Um drei Uhr nachts klingt Denís ungefähr so: „Fuck, wenn diese, fuck, Dummköpfe diese Fotze, fuck, nicht, zum Schwanz, rausgeworfen hätten, fuck, hätten sie, zum Schwanz, verfickt gewonnen, fuck.“ Die Aussage dahinter: „Wenn [Name eines Fußballklubs einsetzen] nicht seinen Stürmer verkauft hätte, hätten sie gewonnen.“


Ansonsten ist das Studentenheim ein Ort, an dem man nette Leute kennenlernt, und eine ziemlich abenteuerliche Wohnstätte... Es ist jeden Tag aufs Neue spannend, was sich unser Domizil an Überraschungen für uns ausgedacht hat. Kaltes Wasser, kein Wasser, kein Licht, kein Internet... Wir teilen uns zu zehnt eine Toilette, eine Dusche und zwei Waschbecken, wobei bei einem der Waschbecken bis vor Kurzem das Abflussrohr fehlte. Vor einigen Wochen sah ich schließlich einen Typen in Arbeitsmontur, der rücklings unter dem Waschbecken lag und ein Rohr montierte. Als ich mir das Ergebnis ansah, beschlich mich das merkwürdige Gefühl, dass da nach wie vor irgendwas nicht stimmte... Er hatte den Wasserhahn mitgenommen!


Auch anderswo ist alles kompliziert oder schlicht nicht machbar. Die Anträge auf Visumsverlängerung mussten wir mit einem ganz bestimmten feinminigen blauen Kugelschreiber ausfüllen, wobei die Anträge selbst auch nach der dritten Reklamation unsererseits noch fehlerhaft waren. Lera aus Kasachstan, die die russische Staatsbürgerschaft möchte, musste sich an neun verschiedenen Orten einer Vielzahl medizinischer Untersuchungen unterziehen und an allen neun Orten jeweils ein Attest abholen. Diese neun Atteste muss sie nun gegen ein zehntes eintauschen, in welchem die Ergebnisse zusammengefasst werden. Wie ihr inzwischen mitgeteilt wurde, wird jedoch jedes Jahr nur eine bestimmte Anzahl von Attesten ausgestellt, weshalb sie nun bis Jänner warten muss. Im Jänner haben einige der neun Atteste dann bereits ihre Gültigkeit verloren. (Wie so oft gibt es aber einen Ausweg: Lera hat zwar kein Geld, aber beim betreffenden Amt einen guten Freund.)


Was tut sich sonst noch in Nischni Nowgorod? Mit Lera (Kasachstan) war ich in Gorodez, einer Kleinstadt im Nordwesten der Oblast Nischni Nowgorod. Die Stadt liegt, wie Nischni, an der Wolga, und ist bekannt für ihre Maler, ihre Lebkuchen und ihre knallbunten Holzhäuser. Im Oktober haben wir die Konzerte zweier Lieblingsbands (Splin, Animal Dschaz) besucht und ich habe neben zahlreichen anderen alten und neuen Freunden endlich auch meinen damaligen Tandem-Partner Igor wiedergetroffen.


Igor ist 24, arbeitet seit einem Jahr als Chirurg und verdient bei 50-60 Arbeitsstunden pro Woche im Monat 6.600 Rubel (rund 160 Euro). Daneben hat er jede Woche neun Stunden Sprachkurs (Deutsch) und pendelt mindestens 40 Minuten nachhause (Er wohnt bei seinen Eltern). Silvester mag er nicht so gerne, weil das Pendeln im Silvesterstau bis zu vier Stunden in Anspruch nehmen kann. Ein Visum, um seine in Deutschland lebende Cousine zu besuchen, wurde ihm vor einigen Monaten verweigert.


Igors Krankenhaus trägt eine für staatliche russische Einrichtungen typische Bezeichnung, ausgeschrieben lautet sie folgendermaßen: Федеральное бюджетное учреждение здравоохранения «приволжский окружной медицинский центр» федерального медико-биологического агентство. Zu Deutsch handelt es sich also um die „Staatliche budgetäre Anstalt des Gesundheitswesens der medizinisch-biologischen Agentur, medizinisches Zentrum des Föderationskreises Wolga“. Abgekürzt wird die Institution mit FBUZ POMC FMBA Rossii. Der Name der Uni, an der Igor studiert hat, ist sogar noch etwas länger.


Womit ich wieder einmal viel zu viel geschrieben hätte und mich meinen Hausaufgaben zuwenden werde... Die muss ich machen, für die Nischni Nowgoroder Staatliche Linguistische Nikolaj-Aleksandrowitsch-Dobroljubow-Universität!