Wien – Lemberg
Freitag, 26. August 2011, 11 Uhr: Ich stehe in einer Nebengasse in Wien-Landstraße und bekomme von einem Spezialisten für superschnelle Visa mein Russland-Visum ausgehändigt. Freitag, 26. August
2011, 12:20 Uhr: Ich sitze mit Lukas im Zug nach Bratislava. Weniger als eine Woche nach meiner Rückkehr vom Sommerkolleg in Nischni Nowgorod geht es zurück nach Russland.
Vier Kilometer hinter der österreichischen Grenze werden wir erstmals auf Russisch zugebrabbelt. „Nein, hier könnt ihr nicht einsteigen!“ Mit einem Wink auf den benachbarten Zweite-Klasse-Waggon
macht uns unsere ukrainische prowodniza (Schaffnerin) klar, dass sie ein vergleichbares Ticket noch nie gesehen hat. Und überhaupt – ihr Schlafwagen fährt ja gar nicht nach Wladiwostok.
Ein Hinweis auf die eindeutig auf unsere Reservierung aufgedruckte Wagennummer genügt aber, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Wir klettern an Bord unseres ukrainischen Hotels auf Rädern, eines
blitzblanken Schlafwaggons mit Dreier-Abteilen. Matratzen und Kopfpölster sind bequem und laden dazu ein, die slowakische Landschaft im Liegen vorbeiziehen zu lassen. Vor der Abfahrt steigen wir
noch einmal kurz aus, um ein paar Bilder zu machen. Die beiden prowodnizy grübeln noch immer über unserem Ticket.
Es wurde Abend und es wurde Nacht, und dann waren wir in der Ukraine und es wurde Zeit, die Pässe abzugeben und den Zug für die russische Breitspur umzurüsten. Vom Umspurprozess selbst bekamen
wir nicht allzu viel mit. Unser Waggon war irgendwo in einem Verschiebebahnhof aufgehängt. Vor unserem Fenster drehte sich eine riesige Schraube rauf und runter und hob unseren Waggon an bzw.
schraubte ihn weiter nach unten. Von Mitternacht bis vier Uhr morgens erfolgte ein Rangiermanöver, über dessen Wesen ich mir bis heute nicht im Klaren bin. Unser Waggon befand sich in einer
tiefen Schlucht, eingekeilt zwischen zwei Felswänden (Eventuell hat sich die Sache auch im Rangierbahnhof abgespielt und die Felswände waren Loks und Waggons, es kommt auf dasselbe raus), und
suchte verzweifelt den Ausgang. Er fuhr ein Stück, krachte irgendwo rein, fuhr denselben Weg zurück und explodierte am anderen Ende der Schlucht noch einmal. Als wir auf diese Art und Weise
beinahe bis Sonnenaufgang herumgeknallt worden waren, bekamen wir unsere Pässe zurück und es ging weiter nach Lwiw (Lemberg). Erwähnenswert ist auch ein Typ mit Schürhaken, der um ein Uhr nachts
unser Abteil stürmte, Lukas‘ Bett hochklappte und aus einem Loch im Boden mehrere Eisenstangen fischte, von denen er eine auf Lukas‘ Knöchel fallen ließ. Damit werden die jeweiligen Drehgestelle
(Normalspur oder Breitspur) fixiert.
Am Bahnhof von Lemberg gab es eine Überraschung, als wir von einem Couchsurfer, dessen letzte Nachricht ich nicht mehr bekommen hatte, begrüßt wurden. Er hieß Arthur, war ein muskelbepackter,
netter Typ und nahm uns erst einmal mit in sein Piercing-Studio, wo wir zusehen durften, wie er einer Freundin ein Loch in die Nase bohrte. Wir verbrachten einen vergnüglichen Nachmittag im
„Kleinen Wien“. Lemberg ist eine Stadt mit reichhaltiger polnisch-österreichisch-jüdischer Geschichte, wovon auch der große, schöne Friedhof Zeugnis gibt. Vom Schlossberg hatten wir einen schönen
Ausblick über die Stadt, und den Abend verbrachten wir mit Arthur & Freunden in einem gemütlichen Gastgarten in der Innenstadt.
Lemberg – Kiew
„Nein, da seid ihr beim falschen Zug.“ Die Geschichte wiederholte sich, alles, was verdächtig aussieht, wird erst einmal abgelehnt, in der Ukraine genauso wie in Russland. Zwei Minuten später
waren wir trotzdem im Zug und lernten einen sympathischen Mitreisenden kennen, einen fröhlichen Kerl, der als Barkeeper in der Slowakei gearbeitet hatte und jetzt nachhause fuhr. In Ternopil
stieg er aus und wir beide gönnten uns einen Abstecher ins Zugrestaurant. Das Essen war gut und wesentlich teurer als in einem österreichischen Speisewagen, was der Grund dafür sein dürfte, dass
der Waggon ansonsten wie leergefegt war – genauso wie der russische Speisewagen, den wir ein paar tausend Kilometer später heimsuchten.
Um 20 Uhr waren wir in Kiew, bewunderten die riesigen Mengen an blau-gelben Schlafwaggons, die überall abgestellt waren und standen vor der Aufgabe, unsere Couchsurfer zu finden. Andrii und Alina
lebten ein paar U-Bahn- sowie mehrere Marschrutka- (Minibus-) Stationen entfernt. Unsere Metrostation hatte sieben Ausgänge, die gesuchte Buslinie war den Leuten unbekannt, und wir fanden das
vollgestopfte Ding rein zufällig. Wir zwängten uns hinein, und nach einer Weile hatte ich die gute Idee, den Fahrer nach unserer Station zu fragen. Worauf dieser scharf bremste und die Tür zur
Seite schwang: „Hier!!!“ Im Dunkeln identifizierten wir in einem Wohnblock die richtige Tür und plauderten dann bis spät in die Nacht mit unseren Gastgebern, zwei äußerst ambitionierten und
hilfsbereiten Ukrainern. Sie schenkten uns eine Karte und stellten uns einen Stadtspaziergang zusammen, mit dem wir die „Mutter aller russischen Städte“ dann am nächsten Tag ziemlich effizient
kennenlernten.
Einige Highlights waren pejzazna aleja, ein surrealer Kinderspielplatz, den man als Nicht-Eingeweihter niemals zu Gesicht bekommt, das funikuler (eine Standseilbahn, Kostenpunkt
€ 0,14) und die 5:33 Minuten Fahrzeit zwischen zwei U-Bahn-Stationen auf dem Weg nach Nowy-Kiew (Wie dieser Stadtteil wirklich heißt, wissen wir nicht). Dass es in Kiew ein paar wirklich schöne
Kirchen, ein beeindruckendes Parlament und viele, viele ehrwürdige Kultureinrichtungen gibt, muss wohl nicht ausgeführt werden. Der Dnjepr machte auf uns den Eindruck einer rechten Drecksuppe,
und Tschernobyl ist über den Nebenfluss Prypjat an den Dnjepr und damit an die ukrainische Hauptstadt angebunden... Wir sind nicht baden gegangen.
Kiew – Moskau
Ein paar Stunden später brausten wir schon wieder durch die Nacht. Von meinem Bett aus sah ich die Schatten der Bäume, und darüber, groß und hell, das Sternbild des Großen Wagens.
Den ersten Abend in Moskau verbrachten wir mit Olja, meiner russisch-koreanischen Brieffreundin aus dem Internet. Wir schafften es, uns in einer Moskauer U-Bahn-Station zu finden und spazierten
dann zur Christ-Erlöser-Kathedrale. Den Heimweg ins Hostel, das wir für die erste Nacht gebucht hatten, legten wir, weils „eh nur so ein Stückerl“ war, zu Fuß zurück, und benötigten dafür
anderthalb Stunden. Die Gebäude unmittelbar außerhalb des Zentrums von Moskau sind niedrig, vereinzelt gibt es Pracht- bzw. Luxus-Bauten. Am meisten stechen in dieser Gegend die tausenden teuren
Autos ins Auge – das Zentrum von Moskau ist denjenigen Autofahrern vorbehalten, die sich die Parkgebühren leisten können.
Tags darauf suchten wir auf einem Riesenareal im Süden Moskaus unter lauter neuen Hochhäusern das richtige heraus und lernten unseren Couchsurfer Denis kennen, einen Spezialisten für
Schlafstörungen, dessen Schlafrhythmus (2 Stunden Schlaf – 2 Stunden wach) meiner Meinung nach als gestört zu bezeichnen ist. Vor dem Bolschoi-Theater trafen wir Anna und Wladimir (Wowa) und
chillten uns dann bis zum Abend in den park pobedy (Siegespark). Dort befindet sich übrigens die längste Rolltreppe der Welt, sie ist 126 Meter lang und führt 84 Meter unter die Erde.
Der spätere Abend war einer Metroführung gewidmet. Im Internet hatten wir die E-Mail-Adresse von Wiktor ausgegraben, einem Jugendlichen, der vor Begeisterung über Stalins „Volkspaläste“ nur so
sprüht, er war Feuer und Flamme, und wir genauso. Es hätte im Übrigen auch ein weniger enthusiastischer Führer genügt, um uns die Sache schmackhaft zu machen, denn eine vergleichbare U-Bahn
findet man auf der ganzen Welt nicht. In jedem dieser Untergrund-Paläste im Zentrum von Moskau stecken unzählige faszinierende Details, die man glatt übersehen könnte, wenn man tagsüber in einer
der alle 90 Sekunden abfahrenden Metros in der Masse um Atem ringt.
Tags darauf war der 1. September, erster Schultag in Russland. Eine Schar von adrett angezogenen Kindern mit Blumensträußen tummelte sich vor unserem Fenster. Anna und Wowa hatten uns eingeladen,
sie zu besuchen, und nach einem ausgedehnten Spaziergang mit Anna gingen wir durch gewaltige Häuserschluchten, um dann unversehens abseits der Blocks vor einem schönen Haus zu stehen. Annas
Großmutter hatte tüchtig aufgekocht, und Wowa servierte selbstgefangenen Fisch. Sie schenkten uns einen großen Sack mit Äpfeln von ihrer Datscha und Anna begleitete uns einige Stunden später noch
bis ins Zentrum. Ihre Familie wohnt „neben einer U-Bahn-Station“, das heißt, es sind vom Haus bis zur Station rund 25 Minuten Fußweg!
Am Vortag war es noch heiß gewesen, doch als wir am späteren Nachmittag dieses 1. September mit Olja durch den schönen Zarizyno-Park gingen, war es Herbst. Gelbe Blätter segelten von den Bäumen,
und der Wind war ein kalter Novemberwind. Ein grauer Himmel kündigte Regen an. Als es uns endgültig zu kalt wurde, gingen wir vor dem Roten Platz was trinken.
Moskau – Nischni
Während Lukas noch einen Tag in Moskau blieb, um einmal ordentlich Sightseeing zu machen, verflüchtigte ich mich noch einmal in unser legendäres Nischni Nowgorod. Am Moskauer
Jaroslawskij-Bahnhof, dem Kilometer 0 der Transsibirischen Eisenbahn, bewunderten wir die Abfahrtstafel und die angeschriebenen Destinationen: Workuta, Peking, Wladiwostok. Die Züge – bis zu
einem halben Kilometer lang, bestehend aus Schlafwagen, einem Restaurant, eventuell Postwaggons.
Die Laub- und Nadelbäume der Mischwälder waren zwischen Moskau und Nischni Anfang September noch grün, das Gebüsch in Bodennähe bereits gelb-orange-rot. Mein Plazkartnyj- (Dritte-Klasse-) Waggon
war sehr modern, er verfügte neben den gewöhnlichen 54 Liegen mit Matratzen (jeweils vier quer zur Fahrtrichtung und zwei auf der anderen Seite des Ganges) über Vakuumtoiletten, die den Vorteil
haben, nicht vor und nach jeder Station zugesperrt zu werden. Im Handumdrehen waren wir über die Stadt Wladimir hinausgeschossen und ich befand mich wieder im guten, alten Nischni.
Ich wartete eine Viertelstunde in der Bahnhofshalle, dann kam etwas Dunkelhaariges auf mich zugeflogen. Es war Anna, und sie war ein bisschen krank.
Am Samstag war Tandems-Nachtreffen! Rein zufällig hatte ich den Tag erwischt, an dem sich der russische Teil unserer alten Truppe noch einmal traf. Für emotionale Schilderungen ist an dieser
Stelle kein Platz, nur so viel: Es war irreal und wunderbar zugleich, all die lieben Leute noch einmal zu treffen.
Nischni – Perm
Der Zug hielt und in der Tür stand bestens gelaunt Lukas. Unser Mitreisender, Pawel, bestand darauf, dass wir seine gesamte Jause aufaßen. Um 1:30 Uhr nachts passierten wir mit Kirow den
nördlichsten Punkt unserer Reise.
Dass die Stadt Perm nicht zu den schönsten Flecken der Welt gehört, war uns schon vor der Anreise klar, und die Stadtführung mit Mascha war erst für den Abend anberaumt, also verabschiedeten wir
uns per Bus in das einzige noch erhaltene GULAG auf russischem Boden, ins Lager Perm-36. Nach 100 Kilometern und anderthalb Stunden öffnete uns der Fahrer die Tür und wir standen im Nichts. Eine
Schotterstraße führte durch ein abgebranntes Dorf in ein anderes Dorf, Kutschino, und dahinter stand klein und harmlos das Lager, in dem politische Häftlinge bis 1988 jahrzehntelange Strafen
abgesessen hatten. Außer uns war noch ein mehrsprachiger Ami vor Ort, das Lager ist zu isoliert, um eine Touristenattraktion zu sein.
Wir holten uns alle Infos, die wir haben wollten, begutachteten Isolationszellen und fünffache Zäune und ließen uns dann von dem Bus, der die Angestellten der Einrichtung in die nächste Stadt bringt, an der Hauptstraße absetzen. Von den vorbeifahrenden Bussen wollte uns keiner mitnehmen, aber dann hielt, ohne, dass wir ein Zeichen gegeben hatten, ein winziges Töff-Töff und ein Russe winkte uns, einzusteigen.
Das Gefährt gehörte zu einer Familie von Zwergautos, deren Angehörige auf der Straße ungefähr so viel Platz wegnehmen wie ein Fahrrad... Der Russe würdigte uns keines Blickes mehr, starrte
grimmig auf die Straße vor uns und quetschte aus seiner Teufelskonserve unglaubliche 115 km/h heraus. Er war insofern repräsentativ für die männliche Hälfte der russischen Bevölkerung, als er uns
längere Zeit eiskalt ignorierte, dann von einer Minute auf die nächste plötzlich auftaute und sich als freundlicher Mensch entpuppte. Wir hätten gerne für die Fahrt bezahlt, aber er wollte nichts
davon wissen.
Beinahe auf die Minute genau trafen wir am Bahnhof ein, wo Mascha, eine Bekanntschaft vom Tandem in Nischni Nowgorod, auf uns wartete. Sie zeigte uns ihre Uni und die paar Sehenswürdigkeiten, die
in Europas Kulturhauptstadt 2014 halt so herumstehen, woraufhin ihr Freund sie mitnahm und Lukas und ich polnisch essen gingen. In einem Supermarkt trafen wir um Mitternacht auf einen
durchgeknallten tschechischen Supermarkt-Detektiv, der schon lange keine Mitteleuropäer mehr gesehen hatte und sich gar nicht mehr einkriegen konnte. Laut Lukas sind das die kleinen Erlebnisse,
die den Reiz einer Reise ausmachen. Um zwei Uhr nachts Ortszeit ging es weiter nach Jekaterinburg bzw. wäre es beinahe nicht mehr weitergegangen.
Zuerst fanden wir unseren Zug nicht. Russische Bahnhöfe sind Prachtbauten, was bei ihrer Konstruktion jedoch zumeist unberücksichtigt geblieben ist, ist die Anbindung des Bahnhofsgebäudes an die
Bahnsteige. Die entsprechende Hintertür kann sich im Keller oder auf dem Dach befinden. Der Bahnhof in Perm hatte einfach zwei akustisch und optisch gut voneinander abgetrennte Hälften. Als wir
endlich vor unserem Waggon standen, betrachtete die prowodniza unseren Internet-Ausdruck (Wir hatten ein Dritte-Klasse-Ticket gekauft), und diesmal war das „Nein“ ein entschiedenes. Ja,
in Moskau sei es kein Problem, mit einem Online-Ticket einzusteigen, aber nein, an Provinzbahnhöfen wie Perm 2 komme dies nicht infrage. Wir müssten den Zettel gegen ein Ticket eintauschen. Ich
kam also in den Genuss eines nächtlichen Sprints in die Kassenhalle und zurück, und mit der Fahrkarte in der Hand wurden wir uns schnell einig. Lukas und ich durften mitfahren.
Perm – Jekaterinburg
In Jekaterinburg wurden wir von unserer Couchsurferin Mascha mit dem Auto abgeholt (Mascha [von Marija] ist einer der beiden häufigsten Frauennamen in Russland, der zweite ist Nastja [von
Anastasija]; in Nischni hatte mir im August eine der teilnehmenden Nastjas ihre beiden Freundinnen vorgestellt – sie hießen Nastja und Nastja). Mascha und ihre Freunde hatten in Eigeninitiative
eine rote Linie quer durch die Stadt gezogen, als Orientierungshilfe für Touristen beim Sightseeing. Sie meinte, dass ihr Projekt vonseiten der Stadt auf positives Echo gestoßen sei: „The
government is very interested in drawing lines.“ Lediglich der Gouverneur der Oblast Swerdlowsk, deren Hauptstadt Jekaterinburg ist, hätte keine rote Linie vor seinem Fenster gewollt. Vom
Antej-Turm betrachteten wir das vergleichsweise moderne Stadtbild, und am Abend kochten wir für unsere Gastgeber ein österreichisches Gröstl.
Jekaterinburg – Omsk
Von Jekaterinburg nach Omsk waren es lächerliche dreizehneinhalb Stunden mit dem Zug, was Lukas zu der Bemerkung bewog: „Wir brauchen a gressas Laund, in dem ma gscheit Zug foan kau!“ Vor Omsk
sichteten wir inmitten von zigtausenden Birken immer wieder Bahnsteige mit Benennungen wie „km 2666“ oder auch ohne Benennung. Und das wars dann jeweils. Zu diesen Geisterbahnsteigen führte,
soweit wir das im Vorbeifahren verifizieren konnten, nicht einmal ein Feldweg, und dort standen auch keine Hütten, geschweige denn Häuser.
Der Omsker Bahnhofs-Palast ist ein Labyrinth aus Marmor. Couchsurfer hatten wir keinen und ein Hotelzimmer kostet in Russland rund 80 Euro, doch wir hatten Glück. An vielen russischen Bahnhöfen
bietet die Gesellschaft günstige Zimmer für Durchreisende. Für 17 Euro pro Person bekamen wir ein Zimmer, das so groß war wie eine kleine russische Wohnung. Wir bekamen es für genau zwölf
Stunden. Vor dem Einschlafen lauschten wir dem leisen, wehmütigen Pfeifen der Lokomotiven.
In der Früh verließen wir dieses Stundenhotel und besichtigten eine Stadt, in der es wenig zu besichtigen gibt. Schließlich setzten wir uns in einen grottenschlechten Film und in ein Gasthaus.
Die Metro in Omsk ist, genau wie die Metro in Krasnojarsk, seit rund 20 Jahren in Bau. Bis jetzt ist weder in Omsk noch in Krasnojarsk auch nur eine einzige U-Bahn gefahren.
Omsk – Nowosibirsk
In unserem Schlafwagenabteil empfing uns ein intensiver Fischgeruch. Ein Ehepaar war auf dem Weg von Sotschi am Schwarzen Meer nach Blagoweschtschensk an der ostchinesischen Grenze und hatte sich
für die sieben Tage lange Non-stop-Reise häuslich eingerichtet. Sogar eine Palme stand in dem vollgepackten Abteil. Es wurde ein sehr interessantes Gespräch und wir wurden auf der Stelle nach
Blagoweschtschensk eingeladen. Die beiden hatten vier Wochen eingeplant – zwei für den Urlaub in Sotschi und zwei für die zehntausend Kilometer lange Fahrt.
Am Morgen des 8. September umwehte uns ein eisiger Hauch Sibirien. Unser Couchsurfer in Nowosibirsk war ein sympathischer Franzose, der für einen russischen Ölkonzern arbeitete. Er wohnte 30
Kilometer außerhalb von Nowosibirsk im Akademgorodok, einem Städtchen, das im Herbst ganz nett anzusehen ist (Nowosibirsk wurde 1893 beim Bau der Transsib-Brücke über den Ob gegründet, ist die
drittgrößte Stadt Russlands und absolut hässlich) und am riesigen Ob-Stausee liegt. Ein bisschen „ab vom Schuss“ fühle er sich hier. Wir verließen diese Stadt nicht ungerne und begaben uns weiter
nach Tomsk.
Nowosibirsk – Tomsk
Nachdem wir in Taiga, einem Nest im Nirgendwo, umgestiegen waren, schepperten wir mit einer elektritschka (einem Regionalzug) noch zwei Stunden durch die Birken und hatten schließlich
das Gefühl, in einer Kleinstadt gelandet zu sein. Die Russen gaben uns da übrigens Recht, umgangssprachlich ist in Russland alles, was weniger als eine Million Einwohner hat, eine „kleine Stadt“.
Tomsk hat im Übrigen rund 500.000 Einwohner.
Es begrüßte uns eine quirlige Couchsurferin in aquamarinblauer Lederjacke, Nastja. Es wurde unsere beste Couchsurfing-Erfahrung, obwohl es hier bereits Mitte September eiskalt war (Die tiefste
jemals in Tomsk gemessene Temperatur ist –55 °C, –45 °C sind in einem durchschnittlichen Winter nichts Ungewöhnliches). Tomsk ist eine Studentenstadt, und über die Freunde von Freunden, deren
Freunde auch Mitglieder der Couchsurfing-Community waren, lernten wir ihrer relativ viele kennen und verbrachten wunderbare anderthalb Tage. Nastjas Freund Igor ist studierter Atomphysiker,
Musiker, Übersetzer und Fotograf. Es war Karneval in Tomsk, und mit warmen, fleischgefüllten Palatschinken in der Hand und vielen ätzenden Bemerkungen auf Lager war es recht unterhaltsam, den
einzelnen vorbeiziehenden Gruppen zuzusehen. Als eine Uni-Delegation in Bienen-Kostümen vorbeitanzte, begann ein Freund von Nastja an meiner Schulter zu schluchzen: „Are you proud of your
university?“
Wir waren mitten im Herbst angelangt und bewunderten den orangeroten Sonnenuntergang über dem eisgrauen Tom. Dahinter standen noch einige Fabriksschlote der gesperrten Stadt Sewersk, deren
Existenz erst seit 1989 offiziell ist und in der französischer Atommüll auf einem Parkplatz gelagert wird, und dann gibts dort nichts mehr bis zum Nordpol. Auch von Nastjas Mutter wurden wir auf
das Wärmste empfangen, und toll bekocht wurden wir von Nastja und ihrer Freundin Helen außerdem. Gegen die sibirische Kälte schützten uns Nastjas Lieblingsdecke und viel heißer Tee. Eine ganze
Gruppe von Freunden, Studenten und Couchsurfern nahm mit uns die berühmten Holzhäuser der Stadt in Augenschein. Unsere Elektritschka zurück nach Taiga ging um 23:59 Uhr lokaler Zeit. Nastja und
Igor begleiteten uns noch zum Bahnhof.
Tomsk – Krasnojarsk
Wir verbrachten einen Teil der Nacht sitzend im Bahnhof von Taiga, mit Anschlüssen „ist das dort nicht so“. Mit uns wartete eine Gruppe männlicher Pensionisten, die „ziemlich beinaund woan“. Uns
direkt gegenüber saßen zwei Typen mit Schirmmütze, von denen der eine selig an der Brust des anderen schlummerte. Als der Zug nach Moskau einfuhr, rüttelte ein dritter Kerl an der Mütze des
zweiten, der daraufhin heftig an der Mütze des ersten rüttelte, sodass sie schließlich beide wach waren. Letzterer musste allerdings noch ordentlich durchgerüttelt werden, bis er bereit war,
aufzustehen.
Unser Mitreisender im Zug nach Krasnojarsk vermied jeden Blickkontakt, wir verräumten unsere Sachen schweigend und gingen ohne ein Wort schlafen. Am nächsten Morgen war er der freundlichste und
leutseligste Mensch der Welt, sodass ich ihn mir am liebsten als Großvater mitgenommen hätte. Die Russen sind schon ein herrliches Volk.
Unsere Couchsurferin in Krasnojarsk hieß Natalija und war knappe 40, ihr Mann hieß Kostja und sah aus wie 25. Nach einem Spaziergang zu dem Schiff, mit dem Lenin in die Verbannung geschickt wurde
und zur Schokoladenfabrik, die sich auf dem Hauptplatz von Krasnojarsk befindet, luden uns die zwei ins Auto und wir fuhren nach Diwnogorsk. In Diwnogorsk befindet sich die Talsperre des
Krasnojarsker Stausees, welcher einer der größten seiner Art ist. Das dort befindliche Schiffshebewerk ist das einzige in Russland und bis zur Fertigstellung des Schiffshebewerks am
Drei-Schluchten-Damm das größte der Welt.
Krasnojarsk – Irkutsk – Baikalsee
Nachdem wir uns von Natalijas Familie und ihrem genialen Hund verabschiedet hatten, bestiegen wir um die Mittagszeit im Bahnhof von Krasnojarsk erstmals den Zug mit der Nummer 2, die
Direktverbindung Moskau-Wladiwostok (Nummer 1 fährt die Gegenrichtung). Ein mitreisender Tadschike war auf dem Weg von Moskau nach Ussurijsk, eine Distanz von 9177 Kilometern. Ohne Aufenthalt.
In Irkutsk begrüßte uns frühmorgens Nikita, ein relaxter Weltreisender und Webdesigner. Lukas und ich sahen uns erst einmal die Stadt an, Irkutsk ist unserer Meinung nach einen Besuch wert. Eine
herausragende Sehenswürdigkeit, die man in einem Reisebericht unbedingt schildern muss, gibt es in Irkutsk nicht, aber doch viele schöne Gebäude, bunte Kirchen, interessante Märkte. Am Abend
machten wir uns mit einer von Nikita gezeichneten Karte auf den Heimweg. Wir nahmen eine andere Buslinie als am Morgen und landeten in der Folge an einem anderen Ort in Nikitas Viertel, wir
dachten, wir hätten das im Griff. Die Straße – jedenfalls ihr Name – erstreckte sich jedoch über mehrere Straßenzüge und die Hausnummern waren scheinbar zufällig durcheinandergewürfelt. Die
Häuser sahen alle exakt gleich aus und kein Passant hatte eine Ahnung von irgendwas. Wir waren einigermaßen frustriert und erfroren, als wir schließlich durch Zufall auf Nikitas Haus stießen.
Lukas rettete am selben Abend noch Nikitas Schildkröte. Sie war seit fünf Tagen abgängig und fand sich in Lukas‘ Polsterbezug wieder.
Für Irkutsk und den Baikalsee hatten wir fünf Tage eingeplant, und so ging es am Folgetag auf die Insel Olchon. Handschuhe und Hauben hatten wir uns am Vortag gekauft und das war gut so, denn als
wir Nikitas Haus am nordwestlichen Ende von Irkutsk verließen und uns mit unseren schweren Rucksäcken auf den Weg machten, hatte es 2 °C und es schneite.
Unsere Marschrutka nach Olchon fanden wir nicht, aber der Fahrer des besagten Minibusses fand uns, weil Nikita die Handynummer des Fahrers im Internet ausgegraben hatte und ihn zu uns dirigierte.
100 Kilometer nördlich von Irkutsk fand der Asphalt ein Ende und es gab keine Bäume mehr (Die Insel selbst war dann wieder bewaldet). Bei Kilometer 50 der Seitenstraße nach Olchon stand ein alter
Mann mit einer Harke (für alle Muttersprachler: mit an Hei’l) und bearbeitete ein 20 mal 15 Meter großes Feld, das er sich nach dem Zufallsprinzip irgendwo im Nichts abgesteckt hatte. Nichts...
Das ist wohl überhaupt das beste Wort, mit dem man Russland beschreiben kann. Zilliarden von Birken und Nadelbäumen (Die russische Taiga ist das größte zusammenhängende Waldgebiet der Erde),
endlose Wiesenflächen, im Süden vereinzelte Städte.
Auf irgendeiner Schlaglochpiste wäre unsere Marschrutka schließlich fast umgekippt. Bei Kilometer 75 der Seitenstraße befand sich ein Dorf. Dort stieg eine Burjaten-Omi ein, sie hatte braune
Hamsteraugen, eine breite Nase und dicke Lippen. Nach weiteren 35 Kilometern stieg sie an einer Stelle, an der drei oder vier Holzhütten das Nachbardorf markierten, wieder aus. Beim Warten auf
die Inselfähre wurde uns extrem kalt, es wehte ein scharfer Wind über die Felsen.
Im Hauptort der Insel Olchon, Chuschir, angekommen, verteilten sich die wenigen Insassen des Minibusses schnell auf verschiedene Häuser und Herbergen. Lukas und ich schlenderten erst einmal ein
bisschen herum und borgten uns schließlich in einer Herberge zwei warme Decken aus. Die Inhaberin des Quartiers wollte lediglich wissen, ob sie sie auch wieder zurückbekommen würde.
Am Sandstrand gesellte sich ein Hund zu uns, der uns für die nächsten anderthalb Tage treu bleiben sollte. Wir waren dick eingepackt und hatten uns schnell an die Kälte gewöhnt. Los gings, über
Sand und Felsen, über Wiese und Waldboden. Das Wetter war trüb, es regnete aber nicht, die Landschaft war wild, leer und atemberaubend. Unsere Meinung: Einfach traumhaft!!
Wir zelteten bei Temperaturen um 0 °C, mit zwei T-Shirts, einem langen Hemd, Kapuzenpullover, Jacke, Decke, Haube, Handschuhen, Schal und drei Paar dicken Socken war es in meinem dünnen
Schlafsack gerade angenehm.
Am nächsten Tag standen wir spät auf, frühstückten und bauten unser Zelt ab. Hinter einem kleinen Dorf riss sich unser vierbeiniger Begleiter ein Schaf. Er wollte auch frühstücken, und bis wir
begriffen hatten, wie blutrünstig das Spiel war, das unser Gefährte ein paar hundert Meter entfernt von uns trieb, war das Tier am Ende seiner Kräfte. Im Verlauf des Tages jagte unser Hund noch
einige Rinderherden und eine große Schafherde. Ich habe nicht gewusst, dass Schafe so schnell laufen können. Auf dem Rückweg trafen wir einen älteren Mann mit einem T-Shirt, das nicht einmal
seine Schultern bedeckte, er arbeitete auf einem kargen Feld. Das tote Schaf dürfte übrigens einer weiteren Verwendung zugeführt worden sein, aus der Ferne sichteten wir eine menschliche Gestalt,
die sich dem Ort des Gemetzels näherte. Vor Chuschir wurde die Landschaft recht kurios, Sanddünen mischten sich mit Nadelwald.
Die zweite Nacht auf Olchon verbrachten wir in dem geräumigen, gemütlichen, im September völlig ausgestorbenen Quartier, dessen Betreiberin uns die Decken geborgt hatte. Sie nannte einen geringen
Preis und wollte auch diesen gleich noch einmal herabsetzen. Wir lehnten ab: Die Dame hatte uns nicht nur mit warmen Decken geholfen, sie hatte uns auch noch mit Suppe, Brot und Tee bewirtet,
ohne dafür Geld zu akzeptieren. Am Abend besichtigten wir den Hafen samt Schiffswrack und die winzige Inselkirche.
Freitag, der 16., war mein Geburtstag, wir feierten ihn mit viel petschenje. Das Teetrinken ist eine russische Tradition, die wir uns gerne angeeignet haben, und nach dem Teegebäck
(petschenje), den Lebkuchen (prjaniki) und dem Konfekt, die es dazu gibt, sind wir süchtig. Nachmittags waren wir zurück in Irkutsk und erstanden für den nächsten Tag Tickets
für die Baikalbahn, einen Touristenzug, der ein altes, aufwändiges, nicht mehr in regulärem Betrieb befindliches Teilstück der Transsib am Westufer des Sees befährt.
An Bord des Zuges befand sich neben uns der erste Irkutsker Fress- und Saufverein, ein Rudel von fettleibigen Frühpensionisten. Eine Stunde nach Abfahrt packten diese Leute ein Buffet aus und der
Wodka begann zu fließen. Beim ersten Aufenthalt in Sljudjanka (Der Bahnhof Sljudjanka ist der weltweit einzige Bahnhof, der zur Gänze aus Marmor gefertigt ist) besorgten sie sich größere Mengen
an Trockenfisch, und in den folgenden Stunden wurde noch drei- oder viermal aufgetischt. In Port Baikal wurden wir auf eine Fähre verfrachtet, wobei sich ein Angetrunkener, dessen Zugehörigkeit
zum Fress- und Saufverein nicht eindeutig geklärt ist, weigerte, an Bord zu gehen. Er wurde zurückgelassen und strahlte dabei über das ganze Gesicht. Seine Frau, die ebenfalls ziemlich bedient
war, kreischte, weil Sonntag war und ihr Gemahl am nächsten Morgen zu arbeiten hätte. Tags darauf verließen wir Nikita, Irkutsk und den Baikalsee und fuhren weiter nach Ulan-Ude.
Irkutsk – Ulan-Ude
In Ulan-Ude war es erstmals seit Moskau wieder warm. Die Stadt ist die Hauptstadt der Republik Burjatien, ehemals Teil der Mongolei, und hat mit anderen russischen Städten wenig gemeinsam. Die
Burjaten sind größtenteils Buddhisten, Lukas und ich besuchten zwei buddhistische Klöster.
Auch in Ulan-Ude war es nicht ganz leicht, unseren Couchsurfer zu finden. In Nischnjaja Iwolga, einem burjatischen Dorf außerhalb der Stadt, angekommen, machten wir uns auf die Suche nach der
betreffenden Straße, die in etwa fünffacher Ausfertigung vorhanden war. Wir hatten Zeit genug, die Einwohner mit ihren Wassertonnen auf Rädern zu bestaunen (Es gibt in diesem Dorf kein fließendes
Wasser). Schließlich fanden wir Sayan, der auf unseren bevorstehenden Besuch vergessen hatte, aber doch noch. Es war großartig, mit seiner burjatischen Familie zu plaudern, sein Vater hat ein
eigenes Buch über Burjatien zusammengestellt, in dem er in schönster Zierschrift über Geschichte und Naturschönheiten der Region berichtet. Außerdem sammelt er sowjetische Briefmarken.
Am nächsten Morgen wurden wir gefragt, ob wir die lokale Kascha, einen Grießbrei, probieren wollten, und wurden, als wir bejahten, mit einem dreifachen „Molodzy!“ („Prachtkerls!“) belohnt, ein
Wort, das in Russland bei jeder Gelegenheit ausgiebig verwendet wird. Als ich vom Zähneputzen zurückkam, war Sayans Vater gerade dabei, Lukas für eine Hochzeit mit einer Burjatin zu motivieren.
Ulan-Ude – Chabarowsk
Für die längste Etappe, den 2881 Kilometer langen Abschnitt zwischen Ulan-Ude und Chabarowsk, kauften wir ordentlich ein. Glasnudeln, die man, nachdem man sie mit heißem Wasser aus dem Samowar
(So einen gibts in jedem Waggon) übergossen hat, sofort essen kann, Pulverpüree, große Mengen an petschenje, und so weiter. 260 Kilometer nach Ulan-Ude hielt der Zug in einem armseligen
Dorf, wo wir am Schotterbahnsteig nochmals zu einer kleinen Einkaufstour starteten. Wir erstanden eine große Wurst und Marmeladepalatschinken, die noch lauwarm waren. Trockenfisch hatten wir
schon im Zug gekauft und jetzt konnten wir es uns erst einmal gemütlich machen. Das Abteil lud dazu ein, es war beeindruckend funktionell und hochmodern. Am Boden befand sich ein Teppich, die Tür
war zur Gänze verspiegelt, zwischendurch wurde immer wieder staubgesaugt. Sogar ein Flachbildschirm befand sich über der Tür, dessen Funktion wir allerdings nicht klären konnten. Die zwei
Vakuumtoiletten des Waggons waren fast immer blitzblank.
Unsere Mitreisenden waren eine dicke Oma aus der Pazifik-Region Primorje und ihr Mann. Die beiden hatten riesige Stapel von Kreuzworträtseln dabei und die Oma schwatzte beinahe ohne
Unterbrechung, ob sie nun gerade Kreuzworträtsel löste oder nicht. Zwischendurch brachte sie ihre ganze Verachtung für Sudokus, deren Prinzip sie nicht verstand, zum Ausdruck. Die beiden waren
von Perm nach Sibirzewo unterwegs, eine Strecke von rund 7500 Kilometern. Ohne Aufenthalt, versteht sich.
Wenn man 2881 Kilometer in Ostsibirien unterwegs ist, hat man für alles mehr Zeit. Wir schliefen und aßen abwechselnd, hörten ab und zu der Oma zu und betrachteten die Birken, die vor dem Fenster
vorbeizogen. Auch einen Besuch im Bordrestaurant genehmigten wir uns, was einige sehr entrüstete Kommentare unserer Kreuzworträtsel-Oma nach sich zog. Was die Birken betrifft, begann Lukas damit,
sehr intensive Überlegungen über eventuelle Verwendungsmöglichkeiten anzustellen: „He, glaubst, komma aus Birken sowas wie Ahornsirup gewinnen?“ Klar, auch in Form von Birkensaft, der in Russland
gelegentlich hergestellt wird, ließe sich einiges verwerten: „Waunst jeden Tog a Birke saufst...“
Nach etwa 50 Stunden mussten wir unseren Schlaf- und Essensrhythmus, an den wir uns sofort gewöhnt hatten, unterbrechen, wir waren in Chabarowsk. Die Stadt liegt am Amur und ist wesentlich
weniger übel, als wir angenommen hatten. Wirklich übel war dafür die Bude unserer Couchsurferin. Eine grauenhafte Wohnung in einem grauenhaften Haus. Zitat Gastgeberin: „Meine Küchenschaben mögen
es nicht, wenn neue Leute da sind.“ Damit die Küchenschaben nur ja nicht auf die Idee kämen, sich außerhalb der Küche auszubreiten, befanden sich auch im völlig verwüsteten Schlafzimmer
Essensreste. Der Abendspaziergang war aber doch ganz nett, und unsere Gastgeberin sprach nur Russisch. Sie zeigte uns das Kriegsspital, an dem Auffanggitter montiert wurden, als sich die Insassen
in Serie aus dem Fenster stürzten. In Chabarowsk gibt es viele Hochhäuser neueren Datums, der Amur ist neben der Stadt rund zwei Kilometer breit. Die Mitbewohnerin unserer Couchsurferin,
ebenfalls eine Studentin, ist noch nie aus der Region hinausgekommen.
Chabarowsk – Wladiwostok
Am nächsten Tag aßen wir gut und ausgiebig und machten uns dann auf den Weg zum Bahnhof. Züge sind in Russland trotz der riesigen Distanzen meist auf die Minute pünktlich, wobei die Züge mit den
niedrigsten Nummern angeblich besondere Priorität genießen. Unser Zug mit der Nummer acht (Nowosibirsk-Wladiwostok) bildete diesmal eine Ausnahme. Er war knapp fünf Stunden verspätet. Einen Teil
der Wartezeit überbrückten wir mit Billard, in russischen Bahnhöfen gibt es wirklich alles. In der Dunkelheit standen wir schließlich gespannt vor unserem Schlafwaggon: Russische
kupé-Schlafwaggons haben 36 Plätze, und unsere Reservierung lautete auf die Plätze 37 und 38. Auf den Waggon war neben der Tür die Zahl 36 aufgedruckt. Die prowodniza beschaute wie alle
prowodnizy vor ihr ratlos unser Ticket, war aber guter Laune und aufgrund der Verspätung nicht zu Diskussionen aufgelegt. Sie winkte uns lachend in den Waggon. Und siehe da – russische
Schlafwagen älteren Semesters haben neben den üblichen neun Viererabteilen ein zehntes, nur wenig schmäleres Abteil, in dem sich übereinander die Betten 37 und 38 befinden. Wir hatten ein
gemütliches Zweierabteil für uns und waren mit dem Schicksal bzw. dem verspäteten Zug ausgesöhnt. In der Früh hatten wir den Pazifik vor dem Zugfenster.
Beim 9288. und letzten Kilometer der Transsibirischen Eisenbahn stiegen wir aus und waren in Wladiwostok. In der Hafengegend fanden wir unseren letzten Couchsurfer, Leo. Am Abend des ersten Tages
nahm er uns mit zu einer Bandprobe, wo wir u.a. einem Südkoreaner, der in Wladiwostok zahlreiche Sushi-Restaurants betreibt, vorgestellt wurden, und im Übrigen sorgte er sich wirklich rührend um
uns. Nicht einmal den Weg zu seinem Haus mussten wir selbst bestreiten, auch am folgenden Tag nicht. Wladiwostok liegt in den Hügeln, rundum gibt es einige Inseln, bis China ist es nicht weit und
Lukas war sich ganz sicher, in der Ferne Nordkorea erspäht zu haben. In Wladiwostok wird 2012 ein Asien-Pazifik-Gipfel stattfinden, deshalb wird die gesamte Stadt zurzeit umgebaut. Unter anderem
werden zwei Brücken konstruiert, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der Golden Gate Bridge erkennen lassen. Wir besuchten einen Leuchtturm, bewunderten wieder einmal den Umstand, dass an allen
sehenswerten Plätzen in russischen Städten immer mindestens drei Paare gleichzeitig am Heiraten sind, und aßen in einem Café Hühner-Curry-Palatschinken.
Am 25. September, Lukas‘ Geburtstag, ging es über Moskau zurück nach Wien. Anderthalb Autobusstunden außerhalb von Wladiwostok befindet sich in den Birken ein kleiner Flughafen, und hinter
einigen Bäumen wartete eine Boeing 747. Vor dem Check-In-Schalter für Kamtschatka stand ein orthodoxer Priester, eine Art Eisprediger, mit langem Rock, Daunenjacke und dicker schwarzer Pelzhaube.
Lukas und ich vertschüssten uns ins herbstlich-warme Österreich. Kamtschatka muss noch ein paar Jahre warten.