Longo Mai ist ein guter Ort, um sich daran zu erinnern, dass man im täglichen Leben eigentlich nur ganz wenige Dinge braucht: Ein Dach über dem Kopf, eine Lagerstatt und was zu essen. Diese Dinge sind in Longo Mai recht einfach zu bekommen, somit lässt es sich leicht tranquilo sein. Eine 40-Stunden-Woche ist im ländlichen Costa Rica abseits der empacadoras (Obstverarbeitungszentren) weitgehend unbekannt, das Leben ist viel unbeschwerter als bei uns.
Wenn du was essen willst, reiß dir eine Yucca aus, nimm ein Ei, Reis und Bohnen (Wenn du Reis und Bohnen nicht selbst anbaust, kannst du sie dir von dem wenigen Geld, das du morgens beim Kaffeepflücken verdienst, billig kaufen), rühr das Ei und die Yucca zusammen, gib den Reis und die Bohnen in zwei Extratöpfe, aufs Feuer damit und – voilà! Wieder sind wir alle satt geworden.
Die Orangen für deinen morgendlichen Orangensaft pflückst du dir vor dem Frühstück (zwölf Monate im Jahr) und Kakao bekommst du, indem du ein paar Kakaofrüchte von den Bäumen holst und die Bohnen röstest (Die Dinger erinnern mich von der Form her an Handgranaten... Das Fruchtfleisch ist, wenn es noch trocken ist, echt lecker).
Neben Orangen und Kakao gibt es hier noch dutzende andere Früchte, von denen die Welt noch nichts gehört hat, die ungebildetste Schicht im ländlichen Costa Rica aber sehr wohl. In Ticolandia gedeiht eine Vielfalt (z.B. gibt’s in diesem Land, das so groß ist wie die Schweiz, mehr Baumarten als in ganz Europa), und die Ticos kennen diese Vielfalt so genau, da könnts einen echt aus den Patschen hauen.
Aber das Leben in Longo Mai hat auch seine dunklen Seiten. Die maes zum Beispiel, wie Lena und ich jenen Teil der männlichen Dorfjugend getauft haben, der sich abends vor der Pulpe eines klar abgegrenzten und recht armseligen Vokabulars bedient („mae“, „hijo de PUTA, mae“) und – bisweilen – Touristen bestiehlt. Es gibt in dieser Altersgruppe (18-25) nur einige wenige Burschen, mit denen ich mit gutem Gefühl mehr als ein paar Worte wechseln kann und will. Die Mädchen derselben Altersgruppe sieht man recht selten auf der Straße, die junge Durchschnitts-Tica hütet ihr Kind (Der Mann hat sie verlassen), trägt einen Minirock und kocht Reis und Bohnen. Die Definition hab ich mit Dario aufgestellt.
Was mir auch nicht behagt, ist der Dorftratsch, und die – obschon verständliche – weitverbreitete Attitüde, einen Ausländer „melken“ zu müssen. In Costa Rica hat alles seinen Preis. Was den Dorftratsch betrifft, suche ich nach wie vor die Zentrale, in der dutzende von Satellitenbildern live analysiert werden, denn die Schnelligkeit und Vollständigkeit dieses „Buschfunks“ ist ganz und gar unglaublich.
Dem muss man das Engagement vieler Dorfbewohner entgegenstellen. In Longo Mai funktioniert das Leben ohne hierarchische Strukturen (Ich weiß nicht, ob es irgendwo auf der Welt noch einen Zivilersatzdiener gibt, der tun und lassen kann, was er möchte), was an Organisatorischem anfällt, wird in freiwilligen Arbeitsgruppen erledigt.
In und um Longo Mai war zuletzt wesentlich mehr los als früher. Von Zelten am Strand über Theater, bailes (noch kann ich weder Cumbia noch Merengue noch Salsa noch Reggaeton) und Pizzaessen bis hin zu Wanderungen. An einem Wochenende im Dezember hab ich im Indigenendorf Térraba vorbeigeschaut, und hatte dort die Gelegenheit, zwei Stunden lang mit Enrique Rivera, einem Führer der costaricanischen Indigenenbewegung, zu plaudern. Enrique ist ein beeindruckender, sehr heller Typ... U.a. hat er mir von den elf in der Region geplanten Staudammprojekten erzählt. Das größte davon wird dafür sorgen, dass ein wichtiger indigener Kulturraum Costa Ricas in ein paar Jahren Geschichte sein wird. Der Strom soll für den Export produziert werden.
Eine Woche vor Weihnachten sind wir zur Perica gewandert, einem Wasserfall in den Bergen über Longo Mai. Es ist wunderschön, wie die Wassermassen schräg aus der Schlucht schießen, und im eiskalten Wasser des unteren Beckens kann man schwimmen (Im oberen Becken ist vor einem Jahr ein junger Nicaraguaner im Strudel ertrunken). Im alpin anmutenden San Jerónimo, ebenfalls nicht weit weg von Longo Mai, haben die so viele Wasserfälle, dass sie nach jedem Familienmitglied einen benannt haben. Jimmy, ein Longomaianer, der vor vier Jahren in die Nähe von Freistadt (Oberösterreich) geheiratet hat, ist für ein paar Monate auf Besuch. Abgesehen davon, dass er muy pura vida ist, ist sein lateinamerikanischer Akzent im österreichischen Deutschen einfach herrlich.
Kurz vor Weihnachten setzt in Costa Rica das große Schweinetöten ein. Ich hab Gilberths Familie geholfen, ihr Schwein zu verarbeiten, und genau das macht Weihnachten in Costa Rica eigentlich aus – Schweinefleisch und Tamales, gefüllte Teiglinge, die in Bananenblätter gewickelt und gekocht werden. Apropos Bananen... Gegenüber des Zivihauses hab ich hinter dem Rancho das vorerst letzte Büschel abgeschlagen – und zwar viel zu früh, wie mir mitgeilt wurde. Jeder hier hat eine andere Methode, den idealen Erntezeitpunkt für ein Büschel Bananen zu bestimmen (Dick müssen sie sein, die Knospe unten dran muss verkümmert sein, leicht gelblich müssen sie sein), aber alle sind sich einig, dass ich diesen Zeitpunkt bei weitem verfehlt habe. Hab das Ding in der Küche aufgehängt zum Reifen (Was auf der Palme reif wird, fressen die Vögel), waren ungefähr 60 Stück.
Cristóbal hat mir geholfen, einen Termitenbau aus dem Zivihaus zu entfernen (Nein, ich war nicht alleine im Haus, als Dario auf Urlaub war – wir waren mehrere zehntausend!), und Dario, der seinen Dienst Ende November beendet hat – und dableibt – betätigt sich als Landschaftsgärtner.
Ich: „Sag einmal, was ist das für ein Weg hinter unserem Haus? Hast du den freigehackt?“
Dario: „Ja, der geht zur Reina. Das ist der kürzeste Weg ins Dorfzentrum!“
Ein paar Tage vor Weihnachten kauften Patricia und ich um teures Geld ein Handy, das als Modem für das geplante Internet-Café dienen sollte. Wir bezahlten in bar und marschierten zum ICE, der costaricanischen Telekomgesellschaft, wo uns ein Freund von Patricia mit geheimnisvollem Lächeln die große Neuheit präsentierte: Einen Stick für mobiles Internet, im Umlauf seit 21. Dezember, etwas bisher Ungekanntes in Costa Rica.
Nun hatten wir also den Stick, und dazu ein 250 € teures Handy, mit dem wir nichts anfangen konnten. Der Typ vom Handyladen war ein schleimiger Affe, der mit Abstand scheißfreundlichste Kerl, der mir in meinem Leben begegnet ist... Das Handy wollte er nicht zurücknehmen. Aber die Ticos sind findige Leute, wenn uns das Ding nicht jemand abgekauft hätte, wären wir es mit Loseverkaufen losgeworden. Costaricaner lieben Lotto.
Am 24. Dezember gab's in diesem Dorf dann erstmals Internet (Die erste Nachricht von Longo Mai an die Welt ging nach Ecuador, an die Steffi ;-), und nach einer fröhlichen Silvesternacht haben wir das „Café Internet de Longo Mai“ offiziell in Betrieb genommen. Die Verbindung ist in den Mittagsstunden oft wenig zufriedenstellend, aber das ICE verspricht baldige Besserung, und Ticos sind geduldige Menschen. Im Moment helfen wir vielen Dorfbewohnern, E-Mail-Adressen anzulegen, und einige sind dabei, das Schreiben mit zehn Fingern zu erlernen. Unser Café floriert und das ist auch kein Wunder: Ich und meine acht „Angestellten“ beherrschen ein Monopol, das einzige Internetcafé im Umkreis von einer Stunde! :D
Anthonny, den ich im November auf Ometepe kennengelernt habe, ist in der ersten Jännerwoche in Longo Mai angekommen, und er hat ein paar Feuerameisen mitgebracht. Bei Anthonny handelt es sich um einen Weltreisenden sondergleichen, er besitzt einen kleinen Rucksack, 30 Dollar, und alle Zeit der Welt.
Und jetzt was ganz anderes. Manchmal denke ich darüber nach, welche die treibenden Kräfte sind, die gerade dabei sind, unseren Planeten zu zerstören. Und wie man anfangen könnte, sie aufzuhalten.
Eine dieser treibenden Kräfte könnte der Zinseszins sein, dieser Systemfehler, der Vermögen und Schulden exponentiell (immer schneller) ansteigen lässt und die Wirtschaft dazu zwingt, auf Kosten der Umwelt immer und immer schneller zu wachsen. Denn wenn die Wirtschaft nicht mit dem Wachstum des Geldes Schritt halten kann, gehen wir alle in einer Hyperinflation unter.
Weiterlesen: http://www.neuesgeld.com/getfile.php?id=192
Es könnte auch der Wirtschaftsimperialismus sein, der von den USA, den NATO-Staaten und von „neutralen“ Ländern wie z.B. Österreich und der Schweiz ausgeht. Die costaricanischen Plantagenarbeiter haben großteils nicht die Bildung, die notwendig ist, um das Unrecht in vollem Ausmaß zu erkennen. Im Gegenteil, sie schätzen den Umstand, dass sie überhaupt Arbeit haben... Und auch im Rest der Welt haben die wenigsten davon gehört, dass das CIA, wenn es sein muss, Flugzeuge abschießt, um Staatsoberhäupter loszuwerden, die sich den imperialistischen Unternehmungen der USA entgegenstellen.
Weiterlesen: John Perkins, Confessions of an Economic Hitman
Die Hauptschuld am Niedergang der Erde (Völlige Ausbeutung von Mensch und Umwelt, große Gebiete, die für die nächsten hunderttausend Jahre verstrahlt sind usw.) könnte aber auch bei jener Mehrheit der Weltbevölkerung liegen, die fest im Kreislauf von Konsum und Manipulation gefangen ist und nicht daran denkt, auszubrechen. Die Entscheidung zwischen Resignation und Rebellion ist bestimmt nicht einfach. Und zweifellos ist es sehr verlockend, im Fernsehen Leute zu beobachten, die, während sie an einen Lügendetektor angeschlossen sind, Fragen über ihr Privatleben beantworten (eine in Costa Rica zurzeit offensichtlich recht populäre Sendung), oder im Gratisblatt aus der Bahnhofsunterführung über eine Katze zu lesen, die in einer Dachrinne steckengeblieben ist (so gesehen in der Heute, einem Tochterblatt der österreichischen Krone).
Weiterhören: Die Ärzte, Deine Schuld
Weiterschauen: Film „Konsumterror“
Wenn jemand Ideen dazu hat, bitte melden, ich geh in der Zwischenzeit weiterlesen. Das wars für heute, ich wünsche allen ein feliz año nuevo!
Besos & abrazos
Anton