Costa Tica VI

Seit Anfang November wohne ich mit Dario im Zivihaus und muss selber kochen (Zum Abendessen geh ich nach wie vor zu Edith). Bis jetzt hab ich hauptsächlich Nudeln und yuca frita gemacht (noch leckerer als Pommes). Ein paar Annehmlichkeiten fehlen hier schon... Ein gut funktionierender Herd zum Beispiel und ein Kühlschrank. Mein Kleiderschrank besteht aus einem Brett, das Reina in eine Ecke genagelt hat, und warm geduscht hab ich mich das letzte Mal im August. Aber unsere Ansprüche sind gering... Wenn man keinen Kühlschrank hat, zahlt man weniger Strom^^ Katharina ist aus dem Burgenland (Pinkafeld) zu uns gestoßen – je mehr Zivis/Volontäre, desto leiwand!

 

Wir haben ein paarmal dort vorbeigeschaut, wo die Zirkusleute wohnen, man kann nicht leugnen, dass es mehr Stil hat, in der Nacht zu fünfzehnt Filme zu schauen und Milchreis zu essen, als ruhig & langweilig (Und auf einer eigenen Matratze, die man nicht teilen muss!) im Zivihaus in Longo Mai zu schlafen. Und der Film „Mar Adentro“ ist sehenswerter als die im Dorf allgegenwärtigen telenovelas, grottenschlechte Serien, in denen irgendwelche Idioten imaginäre Konflikte austragen.

 

Dario hatte irgendwelchen Besoffenen eine kleine Katze weggenommen. Wir tauften sie „Kotz“, weil das das erste ist, was einem Österreicher in den Sinn kommt, wenn er eine Katze sieht. Kotz war unser Vor-dem-Haus-Tier und lief seiner Mama Dario nach, wo immer diese hinging. Was bei dem schönen Deutsch, dessen Dario sich befleißigte, wenn er mit dem Tier sprach, auch kein Wunder war (Ansonsten spricht Dario immer Dialekt): „Komm, Katze, gehen wir Vögel jagen!“

 

Mit meinem Spanisch schauts nicht allzu schlecht aus. Dafür, dass ich meine Lehrbücher eher wahllos und vor allem selten zur Hand nehme, ist in den vergangenen drei Monaten erstaunlich viel weitergegangen. Mündlich merke ich das weniger als schriftlich. Beim Reden hab ich von Anfang an alles umschrieben (Man kann sich mit einem verhältnismäßig geringen aktiven Wortschatz über alles unterhalten – die Kunst besteht darin, alles mit den Wörtern, die man schon beherrscht, auszudrücken), aber schriftlich geht mir das Wenige, das ich auf Spanisch schreibe, jetzt wesentlich leichter von der Hand als damals, vor ganz langer Zeit (vor sechs Monaten), in der Schule. Meine Aussprache ist schrecklich, das spanische R werde ich nie lernen, aber die Leute verstehen mich und ich verstehe sie, und das ist die Hauptsache.

 

Eines schönen Freitags, als ich im Gefängnis Geografie unterrichtete, gab es ein Erdbeben der Stärke 5 auf der Richterskala. Ich glaubte, ich hätte mit dem Fuß gegen den Tisch gestoßen und verstand nicht, warum plötzlich alle aufgeregt durcheinander redeten... Das Beben realisierte ich erst, als es bereits vorbei war. Dario ist von jemandem im Verein auf die „Naturkatastrophen“ bei uns angesprochen worden und hat die Sache sehr schön auf den Punkt gebracht: Die größte Naturkatastrophe hier im Südwesten ist Del Monte.

 

Francela, Dinias Tochter, hat keine Ahnung, warum sie keine Arme hat. Irgendwann wird sie's rausfinden und einer Umweltschutzorganisation beitreten. Bzw. wird sie nichts dergleichen tun, weil sie genauso ignorant erzogen werden wird wie alle anderen. Wahrscheinlich wird sie sogar dieselben „konventionell“ produzierten Ananas konsumieren, die sie verstümmelt haben – wie wir alle. Ich diskutiere die Welt mit Cristóbal aus Longo Mai und mit einer erzrepublikanischen Bekannten aus Kansas... Bei den Diskussionen mit Cristóbal lerne ich Vieles. Nach dem Studieren der E-Mails meiner republikanischen Bekannten könnte ich eine Woche lang speiben.

 

Mit Gilberth, dem besten Gefängnis-Pädagogen der Welt, war ich in San Vito, einer italienischen Stadt im südlichen Costa Rica. Die haben dort zwei botanische Gärten, köstliche Pizza und einen Rechtsstreit mit Del Monte (Dieser Konzern wird auch die allerabgelegensten Gegenden Südwest-Costa-Ricas noch in Ananasplantagen umwandeln).

 

Und dann wars Zeit, auszureisen. =) Mein Touristenvisum ist der Grund, weshalb ich Costa Rica alle drei Monte einmal verlassen muss. An meinem ersten Urlaubstag hab ich in San José (Nach drei Monaten im Süden des Landes erscheint einem die Stadt wie ein Bienenhaufen) endlich wieder einmal die Sari getroffen. Wir haben uns den Film „Gestación“ angeschaut, der deshalb sehr interessant ist, weil er in San José spielt, zu einem kleinen Teil sogar in dem Einkaufszentrum, in dem wir ihn uns angesehen haben. Abends traf ich im „Tranquilo“ Dario, meinen Kollegen aus Longo Mai, und am nächsten Morgen konnte es losgehen.

 

Bis zur Grenze waren es fünf Stunden Busfahrt. Im Nordwesten Costa Ricas, in der trockenen Provinz Guanacaste, nahm der Verkehr allmählich ab. Auf der Straße, die eines der wohlhabenderen Länder Lateinamerikas mit dem (nach Haiti) zweitärmsten verbindet, ist nicht viel los. An der Grenze wars heiß, staubig und langweilig, überall Leute, die irgendwelchen Müll verkauften, und Geldwechsler. Die nicaraguanischen Geldscheine haben die Konsistenz eines Duschvorhangs.

 

Die ersten Stunden in einem neuen Land sind für mich wie ein spannender Film. Aus dem Bus betrachtet war es diesmal ein sehr schneller Film, denn die nicaraguanischen Straßen sind teils wesentlich besser in Schuss als die costaricanischen. Ein paar Kilometer hinter der Grenze beginnt der Nicaraguasee, die zwei Vulkane der Insel Ometepe sieht man schon von weitem. Vor den Häusern, die in Nicaragua – im krassen Gegensatz zu Costa Rica – meist aus Ziegeln gebaut sind und statt Wellblech Dachziegel oben drauf haben, brannten kleine Feuerchen, die verbrannten da Laub oder irgendwas... Im Vergleich zu Costa Rica sieht man im südlichen Nicaragua viel mehr Leute auf der Straße und an der Straße, es gibt Radfahrer, und vor allem Schaukelstühle! In den Häusern und vor den Häusern schaukeln sich die Nicaraguaner durch den Tag.

 

Granada sei schön, haben mir die Leute gesagt, die ich gefragt habe, und sie haben Recht behalten. Die Stadt ist annähernd 500 Jahre alt, und zwischen der historischen Bausubstanz, die genauso gut in Spanien oder Italien stehen könnte, gibt es viel Farbe. Wir sind bei unseren Kollegen vom Österreichischen Auslandsdienst untergekommen.

 

Die Casa de los Tres Mundos, ein Kulturzentrum, in dem Cornelius und Stefan sowie einige Freiwillige beschäftigt sind, ist ein Prachtbau. Während ich unter dem niedrigen Wellblechdach des Salons von Longo Mai oft im Halbdunkeln versuche, den Regen zu überbrüllen, unterrichtet Cornelius in der Casa etwa sechs Meter unter einer schön geschnitzten Holztäfelung.

 

Wir haben in einem kleinen Restaurant zu Mittag gegessen – für 40 Córdoba (€ 1,35) bekommt man dort eine reichhaltige Mahlzeit. Ein verwirrt wirkender Brite stolperte herein und erzählte uns unzusammenhängend von irgendeiner Frühstückspension und dass seine elfjährige Tochter an diesem Vormittag begrapscht worden sei. In Nicaragua gebe es vier Gruppen von Leuten, die besonders oft Opfer von Verbrechen würden – Junge, Alte, Frauen und Weiße.

 

Der Markt von Granada ist großartig, urtümlich irgendwie, und von roten Caribeño-Bananen bis hin zu Chili-Eintopf aus 500-Liter-Bottichen kriegt man dort absolut alles.

 

Granada ist schön, aber vor allem arm. An unserem ersten Abend sind Dario und ich von Prostituierten angefallen worden, die, als sie kein Geschäft mit uns machten, das haben wollten, was wir gerade in den Händen hatten: Ein Feuerzeug und ein paar Mehlspeisen. Ein bisschen Essen haben sie von uns bekommen, Darios Feuerzeug nicht... Eine Frau bettelte mich an, ihr ein kleines Päckchen Kaugummi abzukaufen. Kostenpunkt: € 0,03.

 

In der Casa gehen viele Künstler ein und aus, und einer davon, Osiris, spielt einmal pro Woche für die Leute, die ein paar Kilometer nördlich der Stadt von der Mülldeponie ein Dasein fristen. Er wird von US-Amerikanern begleitet, die am Rand der Deponie eine kostenlose Mahlzeit ausgeben, und an diesem besagten Dienstag hab ich mich der Gruppe angeschlossen. Osiris ist ein Nica, und für ein Benefiz-Konzert für seine Landsleute brauchte er Fotos von der Deponie – deshalb hab ich, obwohl sich sowas eigentlich nicht gehört, im Müll von Granada den Paparazzo gespielt.

 

U.a. hab ich ein Panorama der Mülldeponie vor dem Vulkan Mombacho geschossen, Leute im Frischmüll fotografiert und einen Müllsucher mit seinem Werkzeug (Ich hab ihn gefragt und für das Foto bezahlt). Weiters ein kleines Mädchen in orangeschmutzigem Kleid, das mit einem Glas Orangensaft auf einem umgedrehten Computer-Monitor in der Wiese saß. Ein anderes Mädchen wollte sich mit mir im Müll fotografieren lassen. Nach der Ausspeisung gings wieder zurück nach Granada.

 

Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt, mir Managua anzuschauen, aber von Granada hatte ich tags zuvor das Interessanteste gesehen, und die nicaraguanische Hauptstadt war nur eine Stunde Busfahrt oder € 0,70 entfernt. Mit Stefans Hilfe fertigte ich eine Kopie meines Passes an, ließ auch Kredit- und Bankomatkarte in der Casa de los Tres Mundos und sprang in der Nähe des Parks auf einen Bus nach Managua auf (In der Tür dieser Busse in Nicaragua hängt immer irgendwer der schreit, wo die Reise hingeht). In Managua nahm ich ein Taxi zur Catedral Vieja. Der Fahrer erzählte mir, dass er sich, um nicht abgestochen zu werden, zu Fuß immer nur in größeren Gruppen durch seine Stadt bewege. Wer hörte nicht zu? Ich. An zahlreichen Wänden war „Viva Daniel“ zu lesen, die (Nicht-)Wiederwahl des nicaraguanischen Präsidenten 2011 ist bereits großes Thema.

 

Die alte Kathedrale ist möglicherweise das einzige wirklich schöne Gebäude, das es in Managua gibt, außerdem befinden sich auf diesem Platz in der Nähe des Managua-Sees der Palacio Nacional und ein riesengroßer künstlicher Weihnachtsbaum. Von einigen wenigen Nicas und Polizisten abgesehen ist die Gegend wie leergefegt – die allerwenigsten Touristen verirren sich nach Managua.

 

Wieder einmal bettelte mich eine Horde von Straßenkindern an. Was die nicaraguanischen Straßenkinder betrifft, habe ich rasch eine Strategie entwickelt: Ich kaufe ihnen, sofern was Essbares in der Nähe ist, was zu essen, und versuche dann, ein Gespräch mit ihnen zu beginnen. Einem kleinen Burschen gab ich eine Münze und schärfte ihm ein, sie zur Nahrungsbeschaffung zu verwenden. Er rannte weg und war eine Minute später wieder zurück, in der Hand eine Pflanze, die in einigen langen Halmen auslief. Innerhalb von zwei Minuten steckte er daraus eine Heuschrecke zusammen, ein richtiges Kunstwerk. Teufelskerl.

 

Wie gesagt, normalerweise fotografiere ich keine Armut. Und in Managua hätte ich es auf keinen Fall tun sollen. Aber es gibt eben Dinge, die muss man festhalten – um sie anprangern zu können. Nicht allzuweit von der Catedral Vieja befindet sich Richtung Süden auf der linken Seite der Hauptstraße die Asamblea Nacional, das nicaraguanische Parlament. Auf der rechten Seite der Straße im krassen Gegensatz dazu der elendigste Slum, den man sich vorstellen kann. Fetzen von schwarzem Plastik, mit Tixo wild zusammengekleistert, das Ganze im Quadrat um vier Bäume oder Stecken gewickelt. Diese Behausungen sind maximal anderthalb Meter hoch, und dort schlafen dutzende Familien auf dem Erdboden.

 

Ich nahm meine Kamera, wenn ich mich unbeobachtet glaubte, zwei- oder dreimal aus der Tasche, drückte schnell ab und ließ die Kamera wieder in der Tasche verschwinden. Dann wollte ich ins Zentrum von Managua, von dem ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, dass es nicht existiert (Managua ähnelt seit dem Beben von 1972 einer riesigen US-amerikanischen Vorstadt, alle wichtigen Einrichtungen sind über die ganze Stadt verteilt) und das ich in der Nähe der neuen Kathedrale vermutete. Ich nahm also den Reiseführer zur Hand, den Stefan mir geliehen hatte, schlug den Stadtplan von Managua auf und fragte ein paar Leute nach unserem genauen Standort (Mir nicht klar, dass ich vor der Asamblea Nacional stand, ich war einfach irgendwo hingegangen). Ein großer Typ, um die 40 Jahre alt, schielend, vielleicht mit weißem T-Shirt, daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern, bot mir ungefragt seine Hilfe an. Ich hatte meinen Standort zwischenzeitlich bestimmen können, wusste daher, dass er mich in die falsche Richtung lotsen wollte, und wollte weggehen. Keine Ahnung, warum ich plötzlich wieder meine Kamera in der Hand hatte, jedenfalls ermunterte er mich, noch mehr Fotos zu machen und meinte, er würde mir gerne die Anlage zeigen.

 

Ganz dumm bin ich nicht. Aber in diesem Moment war ich es eben doch. Vielleicht hatte mich die brütende Hitze ein bisschen benebelt... Der Weg am Rande des Slums sah so übel nicht aus und neugierig bin ich immer. Ich beschloss, ihm 20 Meter zu folgen und ein Foto vom Inneren des Plastikdorfes zu machen. In der Nähe standen ein paar Leute herum. Nach 20 Metern blieb ich stehen, hob die Kamera ein bisschen in die Höhe, und schon hatte er sie mir aus der Hand genommen. Ich war völlig benommen, hatte auch gar keine Zeit, darüber nachzudenken, wie mir geschah...

 

Wenn es mich selbst betrifft, kann ich im Allgemeinen viel wegstecken, aber was gar nicht geht, ist der – sprichwörtliche – Diebstahl meines geistigen Eigentums: Wenn man mir meine Kamera wegnimmt, sind meine Bilder weg (im konkreten Fall auch die für Osiris). Die Qualität der Fotos spielt dabei keine Rolle und die Kamera ist nicht so wichtig (Abgesehen davon, dass ich jetzt nicht mehr fotografieren kann^^), aber greift meine Bilder nicht an!

 

Eine Sekunde später brüllte ich ihn wütend an. Intelligent wäre es gewesen, den Kerl ruhig um die Herausgabe der Speicherkarte zu bitten, aber in diesem Moment übernahm der Instinkt... Ich brüllte ihm ins Gesicht, schnappte nach der Kamera und wollte ihm eine reinhauen. Leider wollten meine Fäuste nicht. Die Zeiten, in denen ich meine kindlichen Widersacher kurz und sachlich abgefertigt habe, sind lange vorbei, für Leute wie dich und mich ist es unmöglich, einen Menschen zu schlagen – wenn es nur um einen Gegenstand geht.

 

Der Kerl tat so, als wollte er ein Foto machen und redete beschwichtigend auf mich ein, dafür hätte ich ihm, wenn ich bewaffnet gewesen wäre, vielleicht ins Bein geschossen. Wie gesagt, alles rein instinktiv, keine Logik dahinter, kein Denken. (Ein Glück, dass ich mich waffenlos durch die Welt bewege.)

 

Ich brüllte ihm also mein schönstes Spanisch ins Gesicht, und da begann er zu rennen. Drei Dinge hinderten mich daran, ihm mit der richtigen Geschwindigkeit nachzusetzen: Meine Flipflops, blöde Plastikpatschen, an die ich nicht dachte, meine Benommenheit – seit er mir meine Kamera weggenommen hatte, waren erst ein paar Sekunden vergangen – und drittens die Tatsache, dass er auf eine enge Gasse hinter den Plastikzelten zusteuerte – es war klar, dass ich in dieser Gasse keine Freunde hatte. Trotzdem rannte ich ihm nach, und jetzt, endlich, ließen es auch zwei oder drei in der Nähe befindliche Burschen angehen. Jeder von ihnen hatte einen Pflasterstein in der Hand, so groß wie mein Kopf. Keine Ahnung, wo sie die so schnell herbekommen hatten... Der Abstand zwischen uns und dem Gauner verminderte sich nicht, und nach zwei Biegungen verschwand der Kerl in einem Haus oder auch dahinter.

 

Ich tat noch immer lautstark meinen Unmut kund und ein paar Kerle luden mich ein, in das betreffende Haus einzutreten. Aber da war ich glücklicherweise wieder in der Lage, zu denken.

 

Eine Minute später war die Polizei da. Sie stellten irgendwelche Fragen, telefonierten kurz, und ich ließ mich von den Umstehenden – hauptsächlich Mädchen mit kleinen Kindern – über ein Detail informieren, das mir entgangen war: Der Kerl hatte ein Messer. Alles redete durcheinander, ein paar Burschen rannten irgendwohin und ich hatte keine Ahnung, was los war. Dann luden mich die Polizisten ins Auto und fuhren mich auf die Wache. Völlig sinnlos natürlich, aber man hofft halt doch... Die Prozedur war recht umständlich, nachdem die Anzeige aufgenommen war, musste ich eine endlose Reihe von Bildern durchscrollen, ob der gesuchte Räuber darunter sei. Auf einem Bild glaubte ich meinen Taxifahrer zu erkennen, der Rest waren zum größten Teil blutverschmierte, verweinte und ausgemergelte Gesichter. Mein Gauner war nicht darunter, oder vielleicht doch, ich hatte ihn mir nicht allzu genau angeschaut. Das Schielen war kein Indiz, etwa ein Drittel der Leute auf den Fotos hatte ein eingeschlagenes Auge oder sonst irgendein Problem mit dem Sehorgan. In der Folge sagte ich den Polizisten mehrmals, dass ich gehen wollte, aber die brauchten beinahe zwei Stunden, um einen Zettel auszudrucken, auf dem geschrieben stand, dass ich das richtige Gesicht nicht in der Kartei gefunden hatte. Zwischendurch fragte mich ein Polizist, wie viel Geld ich dabeihatte, und als ich ihn fragte, warum, verdammt, er das denn wissen wollte, lachte er blöd. Drei Jüngere beschrieben mir grinsend den Weg zu irgendeinem Drogennest, in dem ich meine Kamera um 10 $ zurückkaufen könnte. An den Gesichtern war abzulesen, was sie dachten: „Du reicher *****, Recht geschieht dir!“

 

Bei Einbruch der Dunkelheit schaffte ich es doch noch ins Freie, nahm ein Taxi, beharrte auf meinem Wechselgeld (Der Fahrer des ersten Taxis hatte mich erfolgreich abgezockt) und fand irgendwo meinen Bus nach Granada. Wie gesagt, die Kamera ist mir egal (Sie war im Übrigen ziemlich kaputt, hat von Zeit zu Zeit nur mehr weiße Aufnahmen gemacht), aber meine Bilder!! Wenn ihr jetzt Lust bekommen habt, diese heiße, hässliche und gefährliche Stadt zu besichtigen, dann tut das ohne mich... Denn mich sieht Managua nie wieder.

 

Der Grillabend bei Marcela in Granada war wunderbar, und alsbald stiegen ein paar österreichische Klassiker in den Sternenhimmel: „Rätätä, rätätä, morgn homma Schädlweh...“ Innerhalb einer halben Stunde musste ich viermal die Geschichte von meiner Kamera erzählen, und so hab ich sie jetzt auch aufgeschrieben. Alejandro ließ sich eine Beschreibung der Kamera geben, er habe einen Freund in der Nähe des Plastikdorfes, der die infrage kommenden Schwarzmärkte für mich abklappern könne. Ich sei in einem der gefährlichsten barrios (Viertel) von Managua unterwegs gewesen und habe großes Glück gehabt, da so gesund und munter wieder rausgekommen zu sein. Ich könnte einen Aufsatz schreiben über meine Blödheit. Dass die Mehrheit der Touristen und Zivilersatzdiener einen Teil ihrer Habseligkeiten in Nicaragua zurücklässt, ist ein schwacher Trost.

 

Tags darauf fuhr ich nach Ometepe, mit einem knallbunten, uralten Hippie-Bus. In Rivas trennte ich mich von Dario, der wieder nach Costa Rica zurückfuhr.

 

Als Tourist wird man in Nicaragua ausgenommen, ausgenommen, ausgenommen. Der doppelte Preis ist zwar immer noch sehr billig, aber irgendwann nerven sie einfach, die schmierigen Taxifahrer und aufdringlichen Straßenhändler. Von Rivas zur Anlegestelle in San Jorge zahlt man 10 Córdoba, aber nur, wenn man sich in dem Gewühl von Taxis und Fahrrad-Rikschas zurechtfindet und verhandlungssicher ist. Von mir wollten sie 80 Córdoba und meinen Rucksack, letztlich habe ich 40 Córdoba bezahlt und meinen Rucksack behalten.

 

Im Dunkeln kam ich schließlich auf der Finca Magdalena an. Die Finca ist das Zentrum einer biologischen Kooperative und befindet sich auf der südlichen der beiden mit einem Isthmus verbundenen Inseln, nahe der Ortschaft Balgües. Die Aussicht auf den Nicaraguasee und den Vulkan Concepción ist unvergleichlich und man trifft auf der Finca lauter interessante Leute... Einer von ihnen war Justus, ein Kalifornier, der vier Jahre lang per Pferd in Mittelamerika unterwegs war. Alle diese Aussteiger und Weltreisenden auf der Finca Magdalena scheinen eines gemeinsam zu haben: Sie leben von Musik oder Kunsthandwerk (artesanía).

 

Ich bin zur Kraterlagune des Vulkans Maderas gewandert und hab mit dem Rad die Südinsel umrundet. Der Radverleih der nicaraguanischen Ortschaft Balgües auf Ometepe verfügt nur über ein einziges Fahrrad, glücklicherweise hatte es an diesem Tag noch niemand ausgeborgt. Das einzige Auto, das mir an der Südküste von Ometepe begegnete, gehörte der Hilfsorganisation CARE. Touristen gibt’s dort auch keine.

 

Interessant zu beobachten ist auf der Insel auch die Mikroökonomie: Leute gehen ins Geschäft und kaufen eine Karotte und fünf Bonbons oder lassen sich ein kleines Säckchen mit Zucker anfüllen.

 

An meinem letzten Abend in Nicaragua biss mir die mörderischste Ameise, die mir jemals begegnet ist, einen Finger auf. Diese Drecksviecher zwicken eine Hautfalte zusammen und schneiden sie dann einfach durch, das Blut fließt sofort in Strömen. Ich verband meinen Finger und krabbelte dann mit Anthonny, einem Mexikaner aus Mexico D.F., und Bob, einem Iren aus Cork, durch Stacheldrahtzäune zu einer Fiesta. Bob ist schon 62, aber er setzt sich ein Kapperl auf (verkehrt herum), damit man die Glatze nicht sieht, und auf geht’s, ab geht’s. Danach sind wir noch längere Zeit in der Wiese am Rücken gelegen und haben uns den Sternenhimmel angeschaut. So einen Sternenhimmel wie den von Ometepe hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.

 

Um vier Uhr morgens erfolgte der Abstieg zur Straße Piste, ohne Taschenlampe. Glücklich unten angekommen, setzte ich mich auf einen Stein und wartete. Aus dem jahrzehntealten amerikanischen Schulbus, der am Straßenrand abgestellt war (Der einzige, der an diesem Tag in Balgües abfuhr), drangen leise Schnarchtöne. 15 Minuten nach der planmäßigen Abfahrt öffnete sich die Tür, ein Nica stieg aus, stieg wieder ein, spuckte einmal in den Bus und die Fahrt Schüttelei konnte losgehen.

 

In Heredia (bei San José) hab ich dann noch einmal die Bettina getroffen (Steffis Kollegin), sie hat mir die Schwestern und die Kinder gezeigt, mit denen sie arbeitet, und ihr Dorf. Es handelt sich um eine saubere, ruhige und wohlhabende Wohngegend, allemal österreichischer Standard und ganz anders als Longo Mai.

 

Kotz, die Katze, hat nicht auf unsere Rückkehr aus Nicaragua gewartet, sondern das Weite gesucht. Dafür hat Dario im Garten eine Korallenschlange gefunden.

 

Liebe Grüße aus Longo Mai