Costa Tica V

Seit 1. und noch bis 31. Oktober wohne ich bei Edith. Vor meinem Zimmer stehen Orangenbäume, eine Bananen- und eine Kokospalme, und ich laufe da nicht mehr Gefahr, von Valentin ermordet zu werden (Der Zweijährige ist seinen Brüdern zuletzt mehrmals mit einer Machete nachgejagt).

 

Was meine Arbeit betrifft, habe ich in meinen ersten beiden Monaten in Longo Mai hauptsächlich Englischunterricht erteilt. Eine meiner beiden Kindergruppen geht mir zunehmend auf die Nerven und die Zahl der Privatstunden, die ich gebe, ist rückläufig. Dafür hab ich mit Dinia (Francelas Mutter) in Buenos Aires die motivierteste Schülerin aller Zeiten gefunden und unterrichte einmal die Woche im Gefängnis.

 

Das Konzept des Projekttourismus in Longo Mai ist alternativ und aufregend, aber es wird schlecht vermarktet und die Touristeninformation ist unzureichend. Somit hab ich mir alle verfügbaren Unterlagen gekrallt und bin nun dabei, im Dialog mit den Einwohnern Longo Mais ein brauchbares Marketingkonzept zu erstellen. Wichtigster Punkt ist eine Broschüre, die das Projekt detailliert und übersichtlich darstellt und die künftig jedem ankommenden Touristen in die Hand gedrückt werden soll.

 

Nach einem Regenguss hab ich versucht, unser reizendes, reißendes Flüsschen zu überqueren, um ins Nachbardorf Cristo Rey zu gelangen. Ich versuchte es an fünf oder sechs Stellen, ohne Erfolg, und testete Christoph's (Christoph ist ein ehemaliger Sozialdiener von Longo Mai, der in Costa Rica geheiratet hat) Internetverbindung eben tags darauf. Christoph verwendet sein Handy als Modem und die Verbindung ist alles außer schnell. Aber für E-Mails und einfache Recherchen reicht's, deshalb hab ich das Projekt „Internetcafé Longo Mai“ ins Leben gerufen und dem Tourismuskomitee, an dessen Sitzungen ich teilnehme, vorgestellt. Ziel ist die Computer- und Internetalphabetisierung der Dorfbevölkerung. Erste Aufgabe ist die Geldbeschaffung.

 

In der Landwirtschaft hab ich u.a. beim Kaffeepflücken mitgeholfen, eine eher langweilige Arbeit. Man pflückt die gelben oder roten Beeren Stück für Stück – mein Stundenlohn hätte sich auf rund € 0,25 belaufen. Die Ticos und Salvadorianer pflücken deutlich schneller.

 

Unlängst hab ich damit begonnen, mit Lena das Festival zu organisieren, das jährlich im Jänner in Longo Mai stattfindet. Weitere Projekte sind in Vorbereitung.

 

Ab und zu, wenn wir Pläne schmieden und keine Einheimischen dabei sind (kommt vor), stelle ich mir vor, wie das wäre, wenn ein paar Ticos, die von der österreichischen Sprache und Kultur wenig Ahnung haben, in St. Peter einfielen, uns mit ihrem Geld, das wir dringend benötigten, fütterten, und uns zeigen würden, wo's lang geht. Umso bemerkenswerter finde ich nach solchen Überlegungen die Herzlichkeit und die Gastfreundschaft der Ticos und Salvadorianer und den Enthusiasmus, den sie vielen Projekten, die von – dahergelaufenen – Projekttouristen, Volontären und Sozialdienern wie mir initiiert werden, entgegenbringen. Denn die Ticos, die wir mit allen Mitteln glücklicher machen wollen, sind – nicht in allen Belangen, aber in vielen – zufrieden mit dem, was sie haben.

 

Was die Sozialarbeit hier an sich betrifft, schwanke ich zwischen zwei Ansichten. Einerseits glaube ich, dass jeder Einsatz in Übersee kontraproduktiv ist, weil schon der Flug eine klimatechnische Katastrophe ist, die man mit ein paar sozialen Projekten von kleinem Umfang nicht kompensieren kann. Andererseits bin ich der Meinung, dass jeder kulturelle Austausch zu begrüßen ist, der persönlichen Weiterentwicklung wegen und um dem Norden ein Bild des Südens zu vermitteln und umgekehrt. Matt aus Kanada hat gemeint, dass Kanada, wenn man alle Kanadier zu einem Sozialdienst verpflichten würde, ganz bestimmt ein besseres Land wäre. Und Cristobal ist der Ansicht, dass, wenn auf der ganzen Welt sinnlos Militärflugzeuge herumschwirren, es nicht schaden könne, wenn sich auch ein paar Leute mit konstruktiven Absichten ins Flugzeug setzten.

 

Lustig ist's in Costa Rica... Der Zirkus hat an zwei Wochenenden in Longo Mai trainiert und mit Bettina, einer Kollegin von Steffi, die mich besucht hat, hab ich mir die grünen, nassen, herrlichen Primärwälder rund um die nahegelegene Finca Pasiflora angeschaut. Die Partys bei Lenin (Der Typ heißt wirklich so) sorgen dafür, dass Samstagabend niemand im Dorf einschlafen kann und Edith hat uns beim Abendessen vom machismo in El Salvador erzählt und davon, dass ihre Mutter ihr Vorwürfe macht, weil sie nur sechs Kinder hat (Edith hat 14 Geschwister, Maritza 13). Was noch...

 

Fortgehen in Sonador. Bei strömendem Regen zu zehnt auf der Ladefläche eines kleinen Viehtransporters sitzen. Den Latinos beim Tanzen zusehen – wunderbar (Unser Gehüpfe ist im Vergleich ziemlich lächerlich, aber auslachen würden sie uns nie). Ansonsten nichts los, deshalb nach zwei oder drei Stunden Rückzug und unterwegs Zeit genug zum Grübeln: Was  tu ich eigentlich in dem Loch da und wo ist mein Fahrrad?

 

Eins von den coolsten Löchern in der Zona Sur ist der playa von Uvita, dort sind Lena, Sabine und ich am Samstag (10. Oktober) hingefahren. Wir haben Auto gestoppt, weils schneller geht, weniger kostet, und weil's beim Autostoppen keine Ticketverkäufer gibt, die einem ein gehässiges „Está lleno el autobús“ entgegenschleudern (Frei übersetzt: „Der Bus ist voll, fahr drei Stunden später!“). In Uvita am Strand herumhängen, ein bisschen Abstand zu Longo Mai gewinnen, die Seele baumeln lassen, hyperaktiven Flussschnecken mit bunten Häusern zusehen, zurückfahren. Am Rückweg haben uns zwei Kerle mit Pickup mitgenommen. Sie hatten leere Giftfässer geladen, und dann eben uns. Irgendwo bogen wir in einen Waldweg ein, für eine Kaffeepause. Nach zehn Minuten gings weiter, an einer Unfallstelle vorbei – die Polizisten schauten nur. Lustig ist die Fahrt über die Gebirgsstraße, wo sich die Busse mit 15 km/h und stinkenden Bremsen nach unten bzw. oben schrauben und die Ticos ihre irrwitzigen Überholmanöver proben. Als es kalt und dämmrig wurde, begannen die zwei in der Fahrerkabine, Schokoladebonbons nach hinten zu werfen.

 

Von ehemaligen Sozialdienern hab ich erfahren, dass sie im Gefängnis unterrichtet haben, und das wollte ich dann auch probieren. Cristóbal hat mich an Gilberth vermittelt, den zuvorkommenden, engagierten und einzigen Pädagogen des Bezirksgefängnisses von Pérez Zeledón. Und so hab ich denn am Freitag, dem 16. Oktober, erstmals unterrichtet.

 

Folgendes, um alle finsteren Gedanken vorderhand zu zerstreuen: Die Häftlinge von Palmares sind die liebsten Menschen von Welt. Alle sehr sympathisch, teilweise lammfromm. Wenn man ihnen gegenübersteht und mit ihnen redet, fragt man sich, was diese Menschen angestellt haben können und ob einige von ihnen nicht vielleicht Opfer des Systems sind, Verzweiflungstäter oder gar keine Täter... Dass die wirklichen Verbrecher anderswo sitzen, nämlich in Wirtschaft und Politik, muss klar sein.

 

Die ersten beiden Einheiten war Sabine dabei (sehr zur Freude der Häftlinge), unterrichtet habe aber ich. Wenn man von ein paar Kindergruppen abgesehen nie mehr als ein oder zwei Personen zur selben Zeit unterrichtet hat, ist es schon ein starkes Stück, in einem kleinen Raum zwölf Männern gegenüberzustehen. Aber es hat alles gepasst und am meisten profitiert habe vermutlich ich. In meiner ersten Englischstunde saßen Leute mit geringen oder keinen Vorkenntnissen. Ein American-Football-Typ mit einem Brustkasten wie ein Autobus, langen schwarzen Zotten und einem Teddybären-Gesicht erklärte mir höflich, dass er ohne spanische Lautschrift nicht viel mit meinem Englischunterricht anfangen könne. Wieder was gelernt!

 

Nach der zweiten Englischstunde war Mittagspause, und Gilberth zeigte uns die Anlage. Das Gefängnis verfügt über eine Werkstatt, einen überdachten Sportplatz, einen Fußballplatz und einen Bereich, in dem Landwirtschaft betrieben wird. Trotzdem kommen viele der Häftlinge kaum aus den vollgestopften Bungalows, in denen sie leben, raus. Für geistig abnorme Rechtsbrecher gibt es ein eigenes Gebäude. Diese Menschen, die man in Österreich in die geschlossene Abteilung einer Nervenheilanstalt einweisen würde, werden hier nicht betreut, weils im Gefängnis keine Psychiater gibt und außerhalb des Gefängnisses kein Psychiater das Risiko eingehen möchte (Wenn man einen von dort ins Spital einliefert und der dort alles kurz und klein schlägt, wird der Psychiater haftbar gemacht). Diese Leute sind isoliert in Zellen untergebracht, in denen sie zwei Dinge tun können: Schlafen und aus dem Fenster schauen.

 

Gilberth hatte mir vorgeschlagen, auch Deutsch zu unterrichten, und das tat ich nach dem Mittagessen. Mir hat's Spaß gemacht, einmal meine Muttersprache zu unterrichten. Zum Einstieg las ich eine Geschichte in beiden Sprachen vor, auf Spanisch und auf Deutsch. Es war dieselbe Geschichte, die ich schon zwei Kindern im Dorf vorgelesen hatte, sie handelte von einem Dieb. Nach den ersten zwei Sätzen fiel mir wieder ein, wo ich mich befand, und ich hätte mir am liebsten an die Stirn geschlagen. Aber da half nichts, jetzt musste fertig gelesen werden. Der letzte Satz der Geschichte war „Nach diesem Schreck ließ er das Stehlen bleiben.“

 

Trotzdem, und obwohl mein Unterricht ein bisschen ohne Punkt und Komma war (Mein Publikum begriff viel schneller als vorgesehen, weshalb ich mit ein bisschen Grammatik begann, wobei mir auffiel, dass ich als Muttersprachler eigentlich wenig mit der deutschen Grammatik zu tun habe), wurde es eine sehr interessante Stunde, ich glaube, sie haben mir meinen Fauxpas nicht übel genommen. Nach und nach versammelte sich das gelangweilte Schulpersonal im Türrahmen. Meine Schüler waren allesamt inhaftierte Professoren – zum Glück sagte mir Gilberth das erst nachher.

 

Ich war schon ziemlich kaputt, aber der Tag war noch nicht vorüber, meine vierte und letzte  Stunde hielt ich in Geografie. Diesmal war Gilberth selbst unter meinen Schülern, und er hatte ein paar Kollegen eingeladen. Aus der ersten Reihe grinsten mich die beiden Gefängnis-Psychologinnen an.

 

Ich hab die zwei wichtigsten Bewegungen unseres Planeten auf Spanisch erklärt und sie haben mich alle verstanden! Es entspann sich eine interessante Diskussion über den Umgang der Österreicher und Skandinavier mit kurzen und langen Nächten und wir unterhielten uns über die vier Jahreszeiten sowie über die Durchschnittstemperaturen in Costa Rica und Österreich. Einer wollte wissen, wie viel ein Kilo Bananen in Österreich kostet und dann wars Zeit, Schluss zu machen... Ein Häftling hielt mir strahlend eine kleine Schildkröte entgegen, die er irgendwo im Gefängnis gefunden hatte. Eine Woche später fühlte ich mich im Knast bereits wie zuhause.