Costa Tica III

Ich bin doch noch einen Tag länger in San José geblieben und ich hab's nicht bereut. Nach insgesamt drei Nächten im „Costa Rica Backpackers“ kannte ich schon ziemlich viele Leute, und an dem Samstag wars richtig toll. Ein Amerikaner, der seinen Costa-Rica-Urlaub nie beendet hatte und der seit einer Woche im Hostel angestellt war, gab mir meine Kokos-Ananas-Batidos an der Bar um die Hälfte, und das brachte mich so in Fahrt, dass ich sogar mein erstes spanisches Telefongespräch meisterte (Ich hab bei der costaricanischen Eisenbahn angerufen). In einem Buchladen auf der Avenida Central traf ich einen Klagenfurter, der seit acht Jahren in San José lebt. Hans heißt er, und sein Deutsch ist nach wie vor perfekt, allerdings erinnert er sich an einige wenige Wörter nicht mehr, „Frühling“ und „Rettungsauto“ zum Beispiel. Zwischendurch besorgte ich beim Tracopa-Terminal mein Busticket nach Longo Mai. Wegen der Indigenen hier im Südwesten verabschiedete mich die Ticketverkäuferin mit „Howgh“. Die Busfahrt durchs halbe Land kostet weniger als vier Euro.

 

Eine Israelin, die ich tags zuvor kennen gelernt hatte, stellte mich zwei Tirolerinnen vor. Die zwei hatten auf ihrer Reise durch Mittelamerika die unglaublichsten und unerfreulichsten Dinge erlebt (Die Israelin war ihrerseits in San José völlig ausgeraubt worden) und freuten sich nun auf eine entspannende Woche in Costa Rica. Die Gemeinsamkeiten – Slawistikstudium in Wien (hab ich geplant), Aufenthalt in den USA und eine Abneigung gegen bestimmte amerikanische Redewendungen, die man im Hostel wieder mitanhören musste – kannten keine Grenzen, und mein Netzwerk von Bekanntschaften in Costa Rica wuchs unaufhörlich!

 

Und dann die Ankunft im Dorf, das heißt, zuerst einmal an der Bushaltestelle von Longo Mai. Romaín, der erste Dorfbewohner, den ich kennenlernte, riet mir, beim nächsten Haus um eine Fahrgelegenheit zu bitten, und für horrende 3.000 Colones waren die Besitzer des Wagens bereit, mich und mein Gepäck nach Longo Mai zu karren. Ich wuchtete meinen Trolley auf die Ladefläche, hielt mich an derselben fest und los gings. Romaín fuhr gratis mit.

 

Romaín zeigte mir den Weg zu Edith, die im Dorf so eine Art inoffizielle Bürgermeisterin ist. Ich hab eine köstliche salvadorianische Tortilla gekostet und dann ist auch Roland noch vorbeigekommen. Roland hat hier in der Gegend mehrere Projekte initiiert (u.a. auch den Straßenkinder-Zirkus Fantazztico) und ist Gründungsmitglied von Longo Mai. Roland hat mich und mein Gepäck zu meiner ersten Gastfamilie, zu Maritza, gebracht, wo ich zum Einstand – und von da an dreimal täglich – Reis mit Bohnen bekam.

 

Mein Umfeld bei diesem ersten Abendessen erinnerte mich ungeheuer an die Szene von Christi Geburt. Maritzas Küche ist nichts anderes als ein Stall, und dort in einer Ecke saß im Feuerschein unter dem rußgeschwärzten Wellblechdach der kleine Valentin, verträumt auf einem Holzschemel, einen Löffel in der Hand. Wer sagt, dass Jesus nicht unter einem Wellblechdach geboren wurde?

 

Bei Maritza bewohne ich ein kleines, aber adrettes Zimmerchen, und wenn die Außenwelt mitspielt, lässt es sich da ganz gemütlich schlafen. Mit der Außenwelt sieht das meistens so aus, dass irgendwo ein Hund anfängt zu bellen, und zehn Sekunden später bellt das ganze Dorf. Bei Sonnenaufgang kommen die extraterrestrialen Geräusche der Hähne dazu.

 

Trotz des Zimmers, das ich für mich alleine habe, musste ich meine Ansprüche in Bezug auf Ruhe und Privatsphäre aufgrund des beschränkten Wohnraums herabschrauben. Damit habe ich kein Problem, gewöhnungsbedürftiger ist das „Badezimmer“... Zu den anderen Dingen, an die ich mich in meiner ersten Woche gewöhnen musste, gehörte, dass das „Du“ in diesen Breiten Costa Ricas fast ungebräuchlich ist. Maritza siezt sogar den zweijährigen Valentin.

 

Eine weitere interessante Erfahrung ist natürlich das Essen. Reis und Bohnen nehme ich kaum mehr wahr, die Beilagen sind aber teils richtig lecker, pan dulce oder tortillas con queso, por ejemplo. Salate werden hier gesalzen, teilweise auch das Obst. Kakao wird frisch aus Kakaobohnen gerieben und schmeckt irgendwie kräftig, jedenfalls ganz anders als das, was man bei uns zuhause für Kakao hält. Zwischendurch schenken mir Maritzas Kinder immer wieder Mammones, grüne oder rote Früchte, von denen man das Fruchtfleisch isst.

 

An meinem ersten Morgen in Longo Mai hab ich mitgeholfen, im Wald kleine Bäume für ein Versammlungshaus für die Frauengruppe zu schlägern. Mit einer Machete hab ich in einer halben Stunde fünf davon gefällt. Von diesem „Haus“ haben wir ein paar Tage später das Grundgerüst zusammengenagelt, wobei ein Mann aus dem Dorf auf Ästen herumspazierte, die teils nur wenige Zentimeter dick waren. Das „Gebälk“ bog sich sonst wohin. Nach zwei Stunden waren die Nägel aus und die Ticos machten Feierabend.

 

Nach ein paar Tagen im Dorf wusste irgendwie längst jeder, dass ich Englisch unterrichten wollte. Irgendwann in meiner ersten Woche, spätabends, als ich auf dem Weg zum Zivihaus war, rief ein Kind meinen Namen (Für die meisten Leute hier bin ich „Ántoni“) und ich musste mit Taschenlampe, Stift und Zettel meine erste inoffizielle „Unterrichtsstunde“ erteilen. Die drei Kinder hießen Carlos, Gretel und Stacy.

 

Gegen Ende meiner ersten Woche in Longo Mai erzählte mir Juan (Maritzas dritter von vier Söhnen, zehn Jahre alt) von seiner Cousine Francela, und die wollte ich dann unbedingt kennen lernen. Zwei Tage später bot sich mir unverhofft die Gelegenheit, als ihre Familie zu einem Besuch ins Dorf kam. Francelas Mutter, schicke 25 Jahre alt, ist eine von denen, die auf den Ananas-Plantagen von Del Monte gearbeitet und dort zu viel von den falschen Stoffen eingeatmet haben. Francela, vier Jahre alt, hat keine Hände, nicht einmal Armstümpfe.

 

Auf Anregung von Mari haben wir Francela, weil ich mich so für sie interessiere, mit nachhause genommen, und dort hab ich zusammen mit ihr ein Bild gezeichnet. Sie nimmt die Stifte mit den Zehen und beherrscht das perfekt. In die Hütte, die als Küche fungiert, ist anstellte eines Fensterbretts auf einer Seite ein breites Brett eingelassen, das als Tisch benützt wird. Francela saß rechts auf diesem Brett und Valentin links. Der Kleine versuchte ebenfalls, mit den Füßen zu zeichnen, und warf dabei alle möglichen Gegenstände hinunter.

 

Francela benützt ihre Füße auch zum Umblättern, isst Kekse mit den Füßen, trinkt Milch mit den Füßen und formt Schokoladebällchen mit den Füßen. Aber natürlich ist sie eingeschränkt. Valentin, der ständig mit allen möglichen Dingen herumläuft und diese abwechselnd fallen lässt und jemandem in die Hand drückt, watschelte mit einem Spielzeugauto auf Francela zu, woraufhin sie sich mit einem kurzen „no“ in eine andere Richtung drehte. Gemeinsam mit Mari haben wir Schokolade gemacht, aus Zucker von den zum Dorf gehörigen Zuckerrohrfeldern, Kakaobohnen von den örtlichen Kakaobäumen und Wasser. Sonst braucht man nichts dazu.

 

Francelas Geschichte macht mich wahnsinnig wütend, und weil hier fast jeder, den man danach fragt, Englisch lernen möchte, hab ich mich ihrer Mutter als Englischlehrer angeboten. Das Pendeln nach Buenos Aires macht mir nichts aus; sobald ich eine flüssige spanische Unterhaltung führen kann, will ich ihre Mutter Dinia zum Thema „Del Monte“ befragen. Mari hängte Francela zwei Säckchen mit Schokolade über die Schulter und gemeinsam gingen wir zurück zu ihrer abuela.

 

Was den Englischunterricht betrifft, wollen hier alle Privatunterricht, aber ich hab's trotzdem probiert, ein paar große Gruppen im salón comunal (Gemeindesaal) zusammen zu trommeln. Der Erfolg konnte sich sehen lassen: Eine Erwachsene und 20 lärmende Kinder. Die 20 Kinder haben mich endgültig von den Vorteilen des Kleingruppenunterrichts überzeugt. Und noch eine Lektion lernte ich, als nach einer halben Stunde die ersten im Dachgebälk hingen: Mach keine Schulstunde länger als 30 Minuten.

 

Inzwischen unterrichte ich zwei Kindergruppen, hab selbstverständlich längst meine Lieblinge und behandle natürlich alle gleich (Abgesehen davon, dass ich Stacy beim nächsten Mal Bingo spielen gewinnen lassen werde). Neben weiteren Englischgruppen stelle ich zurzeit hauptsächlich eine Info-Mappe für die Touristen zusammen. Aber dazu später.

 

Mein Sozialdienst-Kollege Dario ist ein dezent schräger Vogel, der sich hauptsächlich von Kaffee und Nikotin ernährt und am liebsten fröhlich durch die „großartigen“ Wälder wandelt, auf der Suche nach seltenen Ablegern und Bäumen, die er noch nicht kennt (Von denen gibt’s inzwischen nur mehr sehr wenige).

 

Die ursprünglichen Werte der Longo-Mai-Bewegung (die ein Auswuchs der 68er ist), nämlich Autarkie, Basisdemokratie und Gemeinschaft, kommen hier im Dorf nur bedingt zum Tragen, vor allem deshalb, weil das Dorf im Gegensatz zu den europäischen Pendants nicht von idealistischen Studenten, sondern von nicaraguanischen und salvadorianischen Flüchtlingen sowie landlosen costaricanischen Bauern besiedelt worden ist. Viele hier arbeiten auf Ananasplantagen, was schlecht für die Gesundheit, aber scheinbar doch besser für den Geldbeutel ist.

 

Mir gefällt das Dorf mit seinen pulperías (Greißlerläden), dem Fluss, in dem man baden kann, mit der Ceiba (einem riesigen Baum) und den präkolumbianischen Petroglyphen auf den Felsbrocken, die in den Feldern liegen. In meiner zweiten Woche in Longo Mai realisierte ich eines Nachts im Halbschlaf, wie drei Sekunden lang die Erde bebte. Aber nach einem Blick auf das Wellblech und die paar Bretter, die im schlimmsten Fall herunterfallen könnten, genießt man das leichte Schütteln und alles ist wieder „pura vida“.