So bewusst wie Samstag, den 2. Februar, hab ich in Amerika, glaub ich, noch keinen Tag erlebt. Das führe ich darauf zurück, dass meine Gastmutter und ich von sechs Uhr morgens bis zehn Uhr abends genau das gemacht haben, was ich machen wollte.
Es stand für uns zwei ein Tagesausflug nach La Plata, Missouri, auf dem Programm. Frühmorgens haben wir die Kansas City Union Station mit dem Southwest Chief in Richtung Nordosten verlassen. Der
Chief verbindet Los Angeles mit Chicago. Nach dem „All aboard!“ sind wir gemütlich zum Zug spaziert und in unser Superliner Car gestiegen, mit einem Leergewicht von 67 t einer der schwersten
Eisenbahnwaggons der Welt.
Warum die mit 1.486 Einwohnern eher bescheidene City La Plata nach 223 Kilometern der von Kansas City aus erste Halt ist, ist mir an Bord des Zuges schließlich klar geworden; die Antwort ist,
dass es die Strecke entlang vor La Plata einfach keine größere oder auch nur annähernd große Siedlung gibt!
Begonnen haben wir mit einem Frühstück im Dining Car. Interessant ist, dass einem im Dining Car stets ein Tisch angewiesen wird, an dem bereits jemand sitzt. In dem halbleeren Speisewagen mag das
zuerst etwas seltsam erscheinen, aber die Intention ist klar: Amtrak legt Wert darauf, dass die Kommunikation unter den Passagieren stimmt. Meine Gastmutter und ich haben uns großartig mit
unserem Gegenüber unterhalten, beim breakfast genauso wie beim dinner im Abendzug.
Den größten Teil der Fahrt nach La Plata haben wir im Lounge Car, auch genannt Observation Car, verbracht. In der Online-Beschreibung des Lounge Cars auf der Amtrak-Webseite ist zu lesen:
„Lounge and Cafe Cars provide roomy tables and seating for enjoying your meals, playing a hand of cards or a boardgame, or just sharing time with friends, family and new acquaintances.”
Zu den Schlafwagen bzw. Sleepers ist uns der Zutritt leider verwährt worden.
Mit für Amerika beachtlichen Spitzen von (geschätzt) 75 mph oder 121 km/h sind wir mit leichter Verspätung kurz nach zehn Uhr Central Time in La Plata angekommen. So klein die Station La Plata
ist, hat sie natürlich ein gigantisches Einzugsgebiet. Viel Betrieb war trotzdem nicht.
Was macht man nun zehn Stunden lang in La Plata? Wir haben uns erst einmal die kleine Bahnstation von innen angesehen. Besetzt war sie mit einem Mann, der sich auch als ein Feuerwehrmann und
Restaurantbesitzer von La Plata ausgab. Hätt mich nicht gewundert, wenn er auch der Bürgermeister gewesen wäre... Der Bereich hinter dem Schalter war wie eine kleine Wohnung eingerichtet, sehr
gemütlich, genau wie der Eisenbahner selbst. Er fragte mich, ob ich mich an die genaue Ankunfts- und Abfahrtszeit des Zuges erinnerte und wie viele Leute an und von Bord des Zuges gegangen wären.
Ich schätzte Ankunfts- und Abfahrtszeit auf 10:08 bzw. 10:10 Uhr AM, und die Passagiere auf fünf raus und zehn rein. Dafür beschrieb er uns den Weg zu seinem Restaurant. Nach dem Angebot gefragt,
musste er erst eine Weile nachdenken, empfahl uns dann aber Chicken Tenderloin und seine Bulldogburger. Kaffe bekomme man bei ihm für 75 US-Cent so viel man wolle.
Ich hatte mich im Vorfeld über die Amischen von La Plata informiert. Schon im Zug hatte ich ein paar Amische gesehen, ein bisschen kennenlernen wollte ich sie unbedingt, und so erkundigten wir
uns nach der Amischen-Gemeinschaft des Ortes. Der Eisenbahner hatte jedoch keine Ahnung und verwies uns für weitere Infos an den Depot Inn, ein nahes Motel. Der Depot Inn steht ganz unter dem
Thema Eisenbahn. Ein junger, sehr freundlicher Angestellter erklärte uns, dass es zur nächsten Amischen-Gemeinschaft rund 15 Meilen wären, zeigte uns dafür aber den Weg zu einer kleinen
Aussichtshütte an der Bahn, dem „Eagle’s Nest“. Von dort haben wir nicht nur Züge gesehen, sondern auch einige pferdebespannte amische Kutschen.
Unweit eines kleinen Lebensmittelladens in der heruntergekommenen Innenstadt erspähten wir etwa anderthalb Stunden später einen amischen „Parkplatz“, Pferde und Kutschen. Ein Amischer,
traditionell mit schwarzem Hut und Bart, erzählte uns in (laut Mom) akzentfreiem Englisch von einem „Amish Store“, nur etwa vier Meilen die Straße entlang nach Westen, und der aktuellen Auktion
im Auktionshaus Christy’s. Im Auktionshaus wurde viel Geld für lächerliche Dinge geboten, einige amische Frauen beobachteten die Szene vom Rand aus. Kleine amische Kinder, ebenfalls ganz in
Schwarz, saßen auf einer Couch beim Eingang.
Nach einem Tenderloin im „Corner Café“ (Der Mensch von der Bahnstation war nicht zu sehen) machten wir uns auf den Weg zu dem amischen Geschäft. Immer wieder wurden wir von Amischen in ihren
schwarzen, kleinen Kutschen überholt. Teilweise sind sie wirklich schnell unterwegs. Ein junger Amischer gab uns von seiner Kutsche mit breitem Grinsen ein Handzeichen, das man als „Peace“
interpretieren könnte, und wenig später standen wir im amischen „Country Store“.
Auf Wikipedia steht geschrieben, dass die Amischen in Ermangelung einer ausreichenden Zahl an Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft und im Handwerk nun auch vermehrt im Einzelhandel ihren
Lebensunterhalt bestreiten. Mit Produkten wie ordinären Süßwaren und Marmelade „made in Wisconsin“ hätten wir aber nicht gerechnet. Und die wahnsinnige amerikanische Sitte, alles in viele kleine
Plastiksäcke zu packen, haben diese Amischen auch übernommen...
In einem Winkel unterhielten sich amische Frauen, aber sie murmelten nur, leise und mit diesem schüchternen Unterton, und außer ein paar Einzelwörtern konnte ich nichts verstehen. An der Kasse
richtete ich einen hochdeutschen Satz an die Verkäuferin. Sie verstand mich, scheiterte dann aber am Wort „interessieren“ und verstand mich anschließend gar nicht mehr. Ich versuchte es erfolglos
erst mit Hochdeutsch, dann mit dem guten alten Mostviertlerisch. Ihre wenigen, mit scheuem Lächeln gesprochenen Sätze auf Pennsylvania-Deutsch hab ich aber hervorragend verstanden, und das war
einfach toll für mich. Ich find das so faszinierend!! Die Sprache hat mich entfernt an Vorarlbergerisch erinnert, nur noch mehr vom Hochdeutschen entfremdet, und näher kann ich sie leider nicht
klassifizieren.
Jemand (kein Amischer) bot uns eine Mitfahrgelegenheit an, die wir wegen zu viel Zeit aber ausschlugen. Stattdessen haben wir uns unterwegs zwei „historische“ Häuser und einen hübschen Friedhof
angesehen.
Zurück am Bahnhof La Plata hab ich mich mit einem Menschen unterhalten, der das österreichische Hallstatt kennt! Er ist Archäologe und meinte, dass Hallstatt sein Leben stark beeinflusst habe.
Und er ist der zweite Amerikaner, der mir von Hallstatt erzählt.
Auch eine amische Familie tröpfelte schließlich ins Innere des Stationsgebäudes. Die Mutter und ihre Töchter in ihren schwarzen Hauben, kurzen schwarzen Mänteln und blauen oder grünen Röcken
sowie schwarzen Schuhen und Socken, der Vater mit Vollbart und Hut. Die kleinen Mädchen lächelten ein fröhliches Lachen, aber die ganze Familie verhielt sich sehr schweigsam und lauschte von
einem Platz in der Ecke meinem Gespräch mit dem Amerikaner.
Der Zug war pünktlich und hielt zweimal; zuerst befanden sich die Schlafwagen im Bahnsteigsbereich, dann die Sitzwagen. Dinner an Bord des Zuges war ausgezeichnet. Um 10:11 PM war die Reise und
damit ein hochinteressanter Tag zu Ende. Wer weiß, vielleicht reichen Zeit und Geld in einigen Jahren für einen „North America Rail Pass“. Dann mach ich Interrail in Amerika!