Ich klingle an der Tür und die Glocke spielt ein Geburtstagslied. Das ist gut und auch richtig so, denn meine Schwester gibt heute eine Geburtstagsparty, für ihre Freunde, für unsere Erbtante und für mich. Ich gehe nur sehr selten auf Partys, aber nicht deshalb, weil ich nicht kommunizieren möchte, die Mädels mich nicht mögen und ich nicht eingeladen werde, sondern aus einem viel einfacheren Grund: Weil ich nicht weiß, wie ich die vielen Leute begrüßen soll. Aber wer nicht wagt, gewinnt nicht, und so klingle ich noch einmal.
Kathrines Kopf erscheint hinter einem Wohnzimmerfenster und sie winkt mir, hereinzukommen. Drinnen schüttelt man sich die Hände und schämt sich, weil man so förmlich ist oder küsst sich auf die
Wangen und schämt sich, weil man so zudringlich ist. Ich schüttle Hände und schäme mich, weil ich Schweißhände habe.
Meine Schwester, die ihren festen Platz am Fenster hat, hebt eine Hand, dreht sich um und verkündet: „Tante Elisabeth.“ Die Bedeutungsschwere dieser Worte lässt den Fußboden erzittern. Und sie
verfehlt ihre Wirkung nicht. „Tante Elisabeth“, geht es ehrfürchtig durch den Raum. „Die Erbtante.“ Um der Gastgeberin eine Freude zu machen und die Tante in Ehren zu empfangen, stellt man sich
in einer langen Reihe an die Wand. Mein Nachbar hebt die Hände über den Kopf. Ich stoße ihm heftig in die Seite.
Ein Stampfen, näher an der Tür ein Schnauben, dann ein bedrohliches Klingelgeräusch und die liebe Tante steht behäbig in der Tür: „Mausilein! Alles Gute zum Geburtstag!“ Meine Schwester errötet
und nickt nur, mit Tränen in den Augen. Ein Seufzen geht durch die Reihe an der Wand.
Tante Elisabeth entdeckt die lange Reihe an Partygästen, die sich aufgestellt hat wie für das Erschießungskommando. Unverzagt schreitet sie zur Tat, walzt auf das erste Opfer zu. Ein dickes Opfer
in buntem Strickpullover mit gigantischer Glasperlenkette, eine Freundin von Kathrine.
Die Tante pflanzt sich vor der angstbebenden jungen Frau auf. Zwei schwere Köpfe verharren auf selbem Niveau, nähern sich einander. Zwei wuchtige Kiefer prallen aneinander, man hört Knochen
knacken. Kollektives Seufzen, jemand stöhnt. Man schämt sich, die peinliche Begrüßung mitangesehen zu haben und hat doch keine Möglichkeit, zu entkommen.
Neben Kathrines Freundin steht ein junger, dünner Mann mit braunkariertem Hemd und braunem Schnurrbart. Schaut müde aus und verzieht jetzt, wie vor Rührung, aber mit leidendem Ausdruck, das
Gesicht. „Elisabeth! Wie schön! Sissi!“ – „Helmut!“
Alles stöhnt, alle werden rot, man schließt die Augen. Auch Tante Elisabeths Gesichtsfarbe spielt ins Rotgrüne, wirkt ungesund. Mein Körper beginnt unkontrolliert zu zucken.
Lang ist die Reihe, die aufs Erschießen wartet, und Tante Elisabeth hat erst zwei Leute ordnungsgemäß begrüßt. Aber sie kann jetzt nicht aufhören, das wäre die peinlichste Situation, die
überhaupt denkbar ist. Nummer drei in der Reihe, wieder eine Freundin von Kathrine, verwechselt Linksbussi mit Rechtsbussi. Während Tante Elisabeth ihren Kopf ruppig nach links bewegt, wandert
der Kopf der Freundin, um 180 Grad gewendet, in dieselbe Richtung. Beide versuchen, ihren Kopf dahin zu bringen, dass er weiter links ist als der des Gegenübers – wie sonst soll das Linksbussi,
oder, aus Sicht der Freundin, das Rechtsbussi möglich sein? Kurz vor einem Partygast, dessen baumlanger Körper den herumsausenden Köpfen unweigerlich Einhalt gebieten würde, stoßen die Köpfe
schließlich zusammen und die beiden küssen sich auf den Mund. Angeekelt fahren sie sofort wieder auseinander. Jemand schreit vor Entsetzen, Kathrine wimmert. Viele der Anwesenden schlagen ihre
Köpfe gegen die Wand. Hinter meinem Kopf fällt ein Ziegelstein heraus.
Ich bin der Nächste in der Reihe. Tante Elisabeth ist, auch wenn ich sie ewig nicht mehr gesehen habe, auch meine Erbtante. Und ich habe meinen Text vergessen. Er befindet sich in meinem linken
Ärmel, und meine Hände befinden sich, wie mittlerweile die Hände fast aller Partygäste, hoch über dem Kopf an der Wand.
Ich schwitze nun erbsengroße Angsttropfen. Tante Elisabeth steht vor mir wie ein Strichmännchen, auf dessen Striche dicke, fette Bratwürste aufgespießt sind. Irgendetwas muss ich sagen, sonst
sind die Begrüßung und das Erbe beim Teufel. „Küss die Hand, schöne Frau, deine Augen sind so blau.“
Vor mir ihr Gesicht nimmt plötzlich einen kühlen, ernsten Ausdruck an. Sie runzelt die Stirn. „Du bist auch nicht schöner.“ Meine Hände rutschen an der Wand herunter. Selbstkontrolle, Lockerheit,
Coolness. Wunderbar. Alle Spannung fällt von mir ab, ich falle meiner Erbtante um den Hals. Die Reihe löst sich erleichtert auf. Als sich alles umarmt, sehe ich nur glückliche Gesichter. Wir
haben uns alle so lieb.