Ich liebe dich

Ich liebe dich, Kleines. Weil du so hübsch bist. Rote Haare und wache grüne Augen, genau wie deine Mutter. Fröhlich und zappelig, immer in Bewegung. Du bist wie ich. Nur viel feingliedriger. Und tausendmal so drollig.


Ich liebe dich, Kleines. Aber ich bin schon alt. Ich habe nicht mehr die Kraft dazu. Dein Vater hat mich verlassen. Du hast keine Freunde in dieser Welt, Kleines.


Gestern ist noch ein Geschenk von einer Bekannten gekommen, ein Strampelanzug, weiß, niedlich, mit orangeroten Karos. Ich habe zu weinen begonnen, mein Schatz, und jetzt weine ich wieder.


Hinter den schweren, schwarzen Vorhängen, das ist die Stadt. Ich hätte sie dir gezeigt und du wärst neugierig gewesen, hättest dich zuerst auf das Plastikpferd setzen lassen, gleich um die Ecke, beim Italiener. Aber es ist nicht gegangen. Ich habe auch nicht viel Geld, Kleines. Eine Stadt kennenzulernen, das ist teuer.


Du bist ein Mädchen und heißt Hannah. Dein erstes Wort ist „Mama“, aber du kannst auch deinen eigenen Namen bald aussprechen. Du lernst sehr schnell, und du hast Spaß dabei. Du machst mir viel Freude.


Warum, verdammt, begreifst du denn nicht? Es hat so sein müssen, aus verschiedenen Gründen. Ich hab sie dir doch aufgezählt, Kleines. Schau mich nicht so an. Ich trage keine Schuld, es waren die Umstände. Du hasst mich, nicht wahr? Aber ich liebe dich. Und ich werde dich nie vergessen.


Die Frau Ende vierzig im ersten Stock bückt sich in eine Ecke des Zimmers, hebt den kleinen Strampelanzug auf. Zieht einen Vorhang beiseite und öffnet ein Fenster. Wirft den Strampelanzug auf die Straße.


Unten bleibt eine Frau mit Kinderwagen stehen. Sie blickt auf das Kleidungsstück und dann auf die Frau im ersten Stock. Deren glasige, ausdruckslose Augen haben sich starr auf den Kinderwagen geheftet. Eine winzige, rosige Faust lugt unter dem Sonnendach hervor, ballt sich um einen Zipfel Decke. Die Frau auf der Straße hebt den Strampelanzug auf und hält ihn mit fragendem Blick in die Höhe. Die Frau hinter dem Fenster reagiert nicht. Achselzuckend stopft die Mutter mit dem Kinderwagen den Strampelanzug unter das Gefährt und schiebt es davon.


Ruhe in Frieden, mein Kleines.

(pixabay.com)
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