Entweihte Stille

Kräftig drückte er gegen das große Holztor, und weil es sich nicht sofort öffnete, stieß er wütend seine rechte Schulter dagegen. Ein Stück eisgrauer Himmel war nun zu sehen, der vom Wind an das Tor gepresste Schnee wehte ins Innere, als er sich hastig ins Freie zwängte. Er warf das Tor zu und trat auf die Straße. Die vereisten Kieselsteine knirschten.


Sein Kopf dröhnte noch von ihren Worten. Sie hatte es sich selbst zuzuschreiben, dass sie nun allein in der alten Kirche saß, die sie mit wenigen Möbelstücken zu einer kargen Wohnung gemacht hatten. Wie oft hatte er sie gebeten, zu schweigen.


Tot und düster war die Welt, als er über die vereiste Straße nach Norden ging. Links von ihm war sie genauso gleichförmig kalt und weiß wie rechts von ihm. Die Seiten unterschieden sich nicht von dem, was er vor sich sah und nicht von dem, was hinter ihm lag. Hätte jemand die Welt unter seinen Füßen halb im Kreis gedreht, er hätte es nicht bemerkt und wäre weitergegangen.


Sie hatten zuerst recht glücklich gelebt, hier im Norden. Lange nach der Zeit, in der es sich gelohnt hatte, in dieser Gegend nach Bodenschätzen zu suchen, hatte er die hektische Stadt mit ihren unüberblickbaren, lauten Menschenmassen nicht mehr ausgehalten und beschlossen, hierher in die Einsamkeit zu ziehen. Niemand hatte ihn verstanden, seine Frau jedoch hatte ihn in diesem Vorhaben bestärkt. Über alles hatten sie sich geliebt in dieser Zeit.


Die Sommermonate über arbeitete seine Frau in der Stadt, er bewirtete vereinzelte Tourengeher und schlägerte in den kahlen Wäldern Brennholz. Im Winter waren sie alleine in dem Schnee und dem Eis, lebten von den Dingen, die seine Frau am Ende des Sommers sorgfältig ausgewählt und aus der Stadt mitgebracht hatte. Sie lauschten in ihrer kleinen Kirche dem Wind, der Stille. Und manchmal den Wölfen.


Dann hatte seine Frau begonnen, von den Städten zu sprechen. Von Freunden, die sie gefragt hatten, wie es ihm denn gehe, von Menschen, die in Fachwerkhäusern lebten und jeden Tag zur Arbeit fuhren. Immer schneller und immer weiter gesponnen hatte sie diese Bilder, gerade, als ob sie sie jahrelang zurückgehalten hätte. Ob es in der Hoffnung gewesen war, ihn zur Umkehr zu bewegen, dass sie dies alles erzählte, oder, weil sie bis heute den Drang verspürte, zu sprechen, anstatt leise zu leben und zu lauschen, das wusste er nicht. Er hatte sie gebeten, die Ruhe der Natur zu achten und zu schweigen. Sie hatte ihn verständnislos angesehen und die Bilder vom bunten Leben in der Stadt waren aus ihr herausgesprudelt und hatten ihn an die Mauern der Kirche gespült. Und schließlich durch das Tor.
Er hielt inne und blickte zurück zur Kirche. Schwarz hob sie sich vom dunkelgrauen Firmament ab.


Im Schneetreiben senkte sich das Gelände vor ihm in einer breiten, gleichmäßigen Stufe ein bisschen ab. Er brauchte eine Weile, bis er begriff, wo er sich befand. Das war der See.


Hier war er einmal mit seiner Frau gewesen, ganz am Anfang, nachdem sie in den Norden gekommen waren. Sie waren dicht vor den kleinen schwarzblauen Wellen gestanden, die sich im Kies verlaufen hatten. Sie hatten nichts gesprochen dabei und es war auch gar nicht nötig gewesen. Der See hatte geredet, sie hatten ihm dabei zugehört, stundenlang. Die Sonne hatte sich im Wasser gespiegelt. In der letzten Abenddämmerung waren sie zurückgekehrt in ihre kleine Kirche.


Nun war der See zugefroren, und von einer stumpfen weißen Schneeschicht überzogen, so weit er sehen konnte. Und wieder hörte er in seinem Kopf die Stimme seiner Frau. Er presste die Hände fest an die Seiten der dicken Fellhaube, aber die Stimme ließ sich nicht betäuben. Es war laut hier am See, die Stimme seiner Frau, die er mit sich trug und die nun zerstörte, wo immer er hinkam, war allgegenwärtig. Er wandte sich ab und schritt die Straße zurück. Es war jetzt dunkler als vorhin. Der Schnee leuchtete weiß. Und kalt. Eiskalt.


Vor der Kirche blieb er stehen. Neben dem Tor zwei spitze Fenster mit schmalen, steinernen Simsen, die er gleich nach ihrer Ankunft der Kälte wegen zugemauert hatte. Dahinter wartete seine Frau auf ihn. Wie ein Grabmal stand die Kirche in der Dunkelheit. Ganz still. Mit einem Mal schien es ihm unvorstellbar, dass diese heilige Ruhe von zwei Menschen gestört worden war. Er würde die Kirche und den Norden gemeinsam mit seiner Frau verlassen.


Ein paar Schritte, er stand vor dem Tor. Es war nicht völlig geschlossen, seine Frau musste es wieder ein Stückchen geöffnet haben. Er stieß es ganz auf und rief ihren Namen. Sie antwortete nicht. Ein jäher Windstoß, hinter ihm wirbelten Schneeflocken durch das Tor. Noch einmal rief er nach seiner Frau. Ihr Name verhallte im Inneren der Kirche.

Schnee am Sonnblick
Schnee am Sonnblick