Das Faschingsfest

In einer windschiefen Hütte auf einem hohen Berg, hart an der Kante einer senkrechten Felswand, lebten vier Menschen, die von der Gesellschaft im Tal hochkant gefeuert worden waren. „Abnormal“ sagte man im Tal, wenn man steil nach oben blickte und feststellte, dass die Hütte der vier Männer seit letzter Nacht wieder ein Stückchen weiter über dem Abgrund hing. Zu den vier Junggesellen in der Hütte, die sich stolz als „Originellis“ bezeichneten, sagte man gar nichts. Für sie war noch kein passendes Wort gefunden worden.

Es herrschte dichtes Schneetreiben, und in der Hütte der vier Männer hatte man sich darauf geeinigt, dass heute der 11. Juni war. Demzufolge neigte sich der Karneval dem Ende zu, und die Originellis beschlossen spontan, ein Faschingsfest zu feiern. Karneval war bei den Vieren übrigens immer. Denn abgesehen davon, dass keiner von ihnen in der Lage war, einen Kalender zu lesen, sahen sie keinen Grund, zu irgendeiner Jahreszeit auf das Lustigsein zu verzichten.


Eine passende Verkleidung zu finden, stellte für keinen der Originellis ein Problem dar. Am wenigsten für den Originelli, der wie eine Wurzel mit roten Haaren aussah. Sein Blick fiel auf den großen, schweren Schreibtisch an der Wand (welcher die Ursache dafür war, dass die Originelli-Hütte jeden Tag einen Zentimeter weiter in den Abgrund wanderte) und er beschloss, sich als Schreibtisch zu verkleiden. Er setzte sich drunter.


Der zweite Originelli war klein, sah aber eigentlich ganz normal aus. Allerdings hatte er keine Nase. Der Grund für dieses Phänomen war der Hunger des kleinen Kerls. Seine erste Frage, wenn er was sah, was er noch nie gesehen hatte, war immer: „Kann man das essen?“ So war er eines Tages auf die Idee gekommen, seine Nase zu probieren. Heute wollte er sich als Ungeheuer präsentieren. Ungeheuer war für ihn alles, was er nicht essen konnte, und nach einem Blick auf die Sonne kam er zu dem Schluss, eine ultraviolette Strahlung darstellen zu müssen. Er fauchte probeweise ein langgezogenes „Ssssssssss“ und war mit seiner Verkleidung sehr zufrieden.


Nummer drei war der redseligste der vier Originellis. Anlässlich des Faschingsfestes mimte er täuschend echt einen Utschepank, indem er pausenlos „Utschepank, Utschepank“ vor sich hin brabbelte.


Originelli Nummer vier war Kettenraucher. Er legte seine Stirn in nikotingelbe Falten und spielte mit lauter kreativen Gedanken (Das war sein Lieblingsspiel). Besonders kreativ schien ihm die Idee, sich als X²StaCh330.6)t zu verkleiden. Was das war, wusste keiner der Originellis so genau, jedenfalls berechtigte es ihn dazu, stundenlang mit dem Gesicht zur Wand zu liegen und sich nicht zu rühren. In dieser Position blieb er, spielte mit kreativen Gedanken und amüsierte sich köstlich.


Genau genommen war bis Mittag nur „Ssssssssss“ und „Utschepank, Utschepank“ zu hören. Der Utschepank lauerte der ultravioletten Strahlung in den verschiedenen Ecken der Hütte auf und brüllte ihr dann „Utschepank, Utschepank“ ins Ohr. Die ultraviolette Strahlung rächte sich, indem der Originelli, der sich so verkleidet hatte, immer dann, wenn der Utschepank vorbeikam, mit einem geisterhaften „Ssssssssss“ und schrecklich ausgebreiteten Armen vom Schreibtisch hüpfte.


Zu Mittag waren alle vier Originellis (vor allem der unter dem Schreibtisch) in bester Stimmung, und sie beschlossen, dass es jetzt an der Zeit war, etwas besonders Lustiges zu tun. Der Originelli, der mit dem Gesicht zur Wand lag und überraschend real als X²StaCh330.6)t verkleidet war, hatte versucht, die Wand zu rauchen, war aber kläglich gescheitert. Die ultraviolette Strahlung hatte vergeblich versucht, eines ihrer „Ssssssssss“’s zu verschlingen, sodass diese beiden allmählich unter wirklich argen Entzugserscheinungen litten. Der kettenrauchende Originelli verspielte also seinen letzten kreativen Gedanken und schaute sich nach etwas um, was er rauchen konnte. Der Ultraviolette-Strahlungs-Originelli schaute sich zur gleichen Zeit um, ob es für ihn irgendwo irgendwas zu essen gäbe.

 

X²StaCh330.6)t’s Blick fiel als erstes auf das Stockbett, das neben dem Schreibtisch stand und ein weiterer Grund dafür war, dass die Originelli-Hütte schon beinahe das Gleichgewicht verloren hatte. „Kann man das rauchen?“ fragte er. Die ultraviolette Strahlung fragte im selben Moment: „Kann man das essen?“ Der Kettenraucher bastelte sich einen Trichter aus Papier, der auf der einen Seite gut zwei Meter Durchmesser hatte und auf der anderen Seite in einem dünnen Mundstück auslief. Dann stülpte er das weite Ende über das Stockbett, steckte dieses in Brand, steckte sich das Mundstück in den Mund und begann genüsslich zu rauchen. Der hungrige Originelli hatte es da schwerer. Er musste mit Gabel und Messer die Matratze in mundgerechte Stückchen zerschneiden und das, bevor selbige verbrannte.

 

Das Rauchen und Essen nahm viel Zeit in Anspruch, sodass sich der Utschepank aus Mangel an Beschäftigung schließlich unter den Schreibtisch setzte und dem neugierig lauschenden Originelli, der sich so stilecht als Schreibtisch verkleidet hatte, ununterbrochen „Utschepank, Utschepank“ ins Ohr flüsterte. Der als Schreibtisch verkleidete Originelli konnte es schließlich nicht mehr hören, ließ sich das Wort „Utschepank“ an Ort und Stelle patentieren und strafverfolgte seinen Kollegen unter dem Schreibtisch nach Kräften, weil dieser sich weigerte, auf das schöne Wort zu verzichten (das immerhin er erfunden hatte!). Beide starben dort einige Stunden später, als die Hütte endgültig aus der Balance geriet, die Felswand hinunterpolterte und vor den Nasen der Gesellschaft im Tal in hunderttausend kleine, rauchgeschwärzte Stückchen zersprang.


X²StaCh330.6)t und die ultraviolette Strahlung waren glücklicherweise wenige Minuten vor dem Absturz in der Mitte des Stockbetts zusammengetroffen und hatten sich darauf geeinigt, hinauszugehen und dort nach etwas zu suchen, das sie rauchen beziehungsweise essen konnten.


Die beiden standen an der Felskante und starrten in Richtung Mond. „Kann man das essen?“ fragte der Ultraviolette-Strahlungs-Originelli. Sein Freund antwortete nicht und blickte nur sehnsüchtig auf die gelbe Scheibe. Es gelang ihm nicht, den Mond zu rauchen, weshalb er einige Nächte später an Ort und Stelle vor Sehnsucht starb. Er raucht in Frieden.


Die ultraviolette Strahlung wurde von einigen Gendarmen mit einer Zwangsjacke abgeholt und in ein Irrenhaus eingeliefert. Dort starb der Originelli im Alter von 126 Jahren an einer Überdosis Sonnenlicht.


War es nicht wert, die Geschichte dieser vier unbekümmerten, lebensfrohen Männer dem Dunkel der Vergangenheit zu entreißen und ihnen an dieser Stelle ein Andenken zu setzen?

(pixabay.com)
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