Für eine Sekunde

Da klirrte nichts mehr vor Kälte. Waldmann stand als fremdes Objekt in einer völlig unberührbaren, leblosen Welt. Es war so still, dass sein eigenes Atmen wohl zwanzig Meter weit zu hören war. Aber wer sollte ihn hören?


Die Bäume? Sie waren mit einer dicken Schicht Schnee bedeckt und standen unbeweglich in der Dunkelheit. Oder etwa die Eiszapfen? Völlig starr schienen sie zu den mächtigen Felsen zu gehören, die abweisend über die Schneefläche blickten. Nein, Waldmann fühlte sich nicht beobachtet. Denn der Wald hatte aufgehört zu leben.


Vorsichtig, beinahe schuldbewusst, diese vollkommene Ruhe zu stören, wagte der alte Mann einen kleinen Schritt. Der stumpfe, hartgefrorene Schnee knirschte unwillig. Jetzt begannen Waldmanns Pelzstiefel, den eisigen Waldboden in der breiten Waldschneise abzutasten. Der Alte suchte etwas. Dann musste er es gefunden haben, denn die abgewetzte Spitze seines Stiefels stieß auf Widerstand. In den gelblichen Augen flackerte es gierig. Mit hastigen kleinen Tritten schob Waldmann den harten Schnee zur Seite. Das Gesicht, welches ohne die spärlichen, hellbraunen Haare an einen alten Apfel erinnert hätte, versuchte, ein triumphierendes Lächeln zu formen. Doch die bittere Kälte ließ es nicht zu.


Die großen Augen hefteten sich auf zwei parallele Linien, auf silbrige Stahlschienen, die sich in der Dunkelheit nur wenig vom Schnee abhoben. Waldmann schien dieser Fund aufrichtig zu freuen, denn er nickte zufrieden mit seinem kleinen Kopf, als er wieder einige Schritte zurückwich. Er hielt den Atem an, als er für einige Sekunden in die Nacht lauschte. Doch es blieb still, noch immer bewegte sich nichts.


Der alte Mann ging leicht in die Knie, neigte sich ein wenig nach hinten und kippte dann einfach hintüber in den Schnee. Ein leises Krachen, aber er erschrak nicht. Er schien es so gewollt zu haben. Ein Grinsen huschte für einen Moment über die Züge Waldmanns, als er seinen bloßen Hinterkopf noch weiter in den kalten Schnee drückte. Die blassen Augen bekamen einen träumerischen, ehrfürchtigen Ausdruck, nachdem er seinen Blick auf das mächtige Firmament gelenkt hatte. Ein Stern blinkte hell und unerreichbar. Trotzdem streckte der greise Mann seine dünnen Hände danach aus.


In diesem Augenblick löste sich ein heller Punkt erst behutsam und zögernd aus dem Sternenmeer, dann schoss er als gleißende Sternschnuppe über den Rand der Erde in die Unendlichkeit. Waldmann durfte sich etwas wünschen. Und er wünschte sich etwas, mühsam bildeten seine blauen Lippen ein einziges Wort, einen kleinen Wunsch. Er wäre jedem Zuhörer seltsam erschienen, doch es hörte niemand zu. Die Bäume standen so unbeweglich wie zuvor.


Es gab keine Zeugen, als der alte Mann mühselig versuchte, unter Aufbietung seiner letzten Kräfte wieder auf die Beine zu kommen. Er rollte sich ächzend durch den gefrorenen Schnee zu den Schienen zurück und klammerte sich an ihnen fest. Sie gaben ihm Kraft. Die wirren Augen des alten Mannes leuchteten für einen Moment auf bei dieser Berührung. Mit äußerster Anstrengung stemmte Waldmann seine steifen Beine von innen gegen den Schienenstrang der Schmalspurbahn, dann stand er schwankend auf. Er hob einen der in der grimmigen Kälte schon fast abgestorbenen Füße über den dünnen Stahl, dann den zweiten. Es war nun nicht mehr ganz so schwarz um ihn, die alten Tannen an den Waldrändern links und rechts des Gleises nahm er jetzt schon deutlich wahr. Lange konnte es nicht mehr dauern. Unruhig scharrte der Greis mit seinen abgewetzten Pelzstiefeln den Schnee von den Schienen. Doch sogar das bereitete ihm jetzt schon Schwierigkeiten.


Da! Ein leises, noch kaum wahrnehmbares Summen wurde von den geübten, großen Ohren aufgefangen. Waldmann zwinkerte aufgeregt.
Das war der Grund, weshalb er heute so früh aufgestanden war. Zum Summen, welches nun schon deutlicher zu hören war, gesellte sich ein leises Knistern der Stromleitung, die mehrere Meter über dem Waldboden dem Lauf der Schienen folgte. Der Boden vibrierte kaum merklich, ein schwacher Lichtstrahl schien aus der Ferne, er kam schnell näher und nahm an Kraft zu. Laut summend schoss der kleine Triebwagen auf den alten Mann zu.


Waldmann zitterte jetzt vor Erregung. Er keuchte laut. Speichel rann ihm aus dem Mund, lief das welke Kinn hinunter und tropfte neben das im Scheinwerferlicht aufglühende Gleis, wo er sofort erstarrte. Der Alte riss die glänzenden Augen weit auf, als ihn die starken Scheinwerfer streiften und sich dann weiter in die Finsternis fraßen. Ein erstickter Schrei entrang sich seiner Kehle. Der hell erleuchtete Zug jagte an ihm vorbei. Die Schienen dröhnten leise, der Zug raste in die Kurve und verschwand in rascher Fahrt hinter den kalten Felsen.
Er hatte einen echten, einen brandneuen 4090er gesehen!

Vermisst wurde der alte Eisenbahner erst nach einigen Tagen. Dann wurde es in dem kleinen Bergdorf lebendig, alles was Beine hatte, machte sich auf die Suche. Als ihn einige Männer schließlich fanden, war der kalte Körper schon von einer dünnen Schneeschicht bedeckt.
„Er hat wohl geglaubt, er müsse die Strecke kontrollieren, der alte Spinner“, meinte einer der Erwachsenen. „Na, jetzt hat er das Ende seines Lebens erreicht.“ Der Mann hätte nur einen aufmerksamen Blick auf das weiße Gesicht des Greises werfen müssen, dann hätte er gewusst, dass Waldmann noch viel mehr erreicht hatte.

Dann hätte er gewusst, dass Waldmann noch viel mehr erreicht hatte.
Dann hätte er gewusst, dass Waldmann noch viel mehr erreicht hatte.